Chan konnte nicht schlafen. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um Toshira. Hatte sie ihre Herkunft vor allen geheim gehalten? Über so viele Jahre? Die Schwertmeisterin war bei Luritri aufgewachsen. Steckte sie etwa als Mitwisserin mit Toshi unter einer Decke? War sie Ahnungslos? Chan wusste nicht, wem sie noch trauen sollte, außer Adriël. Tarodrim schien ihr verlässlich. Doch würde er mit dem Wissen zu Luritri gehen, wenn Chan es ihm anvertraute? Sie war sich nicht sicher. Sie musste herausfinden, was vor sich ging, und einen Plan schmieden. Chan hatte keine Ahnung, wie.
“Alle aufstehen”, Finola ging im Lager umher. Sie sprach gedämpft. “Macht euch bereit und folgt den Leuten vor euch.”
Als Finola bei ihrer Mutter angelangt war, zeigte Allyn Meda auf einen jungen Mann.
Die Rätin verdrehte die Augen. “Aledo Torrez. Der hat uns noch gefehlt.”
Kurz darauf befanden sie sich auf dem Weg durch das Dunkel.
“General Krelynn.” Die Wache salutierte. “Der Spähtrupp ist eingetroffen. Mit einem Gast.”
Krelynn sprang auf. “Das wurde auch Zeit.”
Der Elf schlug die Klappe des Zelteingangs zurück und betrachtete die erste Trophäe seines Kriegszuges im Schein der Fackeln. “Willkommen, Schwertmeisterin.”
Wie lange hatte er auf diesen Moment warten müssen. Er hatte bereits seine eigene Tochter in der Gewalt gehabt. Gemeinsam mit dem Menschenkind, von dem manche meinten, sie trüge den Schlüssel für das Schicksal der Welten in sich. Beide waren entkommen. Nicht für immer. Früher oder später würden sie ihm wieder in die Hände fallen. Seine Tochter konnte sich ihm anschließen oder sterben. Wahrscheinlich Letzteres. Das Menschenkind würde früher oder später ebenfalls zu ihm kommen. Sie durfte ihre Mutter nicht finden. Ansonsten war die Stellung seinen Sohnes mehr als gefährdet.
Nun stand die Drachen-Hybridin vor ihm. Ihre Hände waren auf den Rücken gebunden.
“Dir dürfte nicht bewusst sein, wie wertvoll”, er legte eine kurze Pause ein, “und welcher Herkunft du bist.”
Toshira spuckte aus. “Ich weiß sehr wohl, woher ich komme.”
Krelynn lief um sie herum. Er näherte sich ihr von hinten, bis sein Gesicht neben ihrem erschien. “Bist du dir sicher?”
Toshira blickte starr geradeaus. “Ihr könnt versuchen, mich etwas anderes Glauben zu machen. Es wird nicht funktionieren.”
Der Elf setzte seine Umrundung der Gefangenen fort. Er nahm ihre Schwerter von dem Truppführer entgegen. Der Elf zog eines der Kasans. Hielt es senkrecht vor sich, so dass die Klinge das Mondlicht einfing. “Du bist eine Schwertmeisterin. Du hast gelernt, die Dinge immer so zu nehmen, wie sie kommen. Nicht an alten Fehleinschätzungen festzuhalten.”
Krelynn vollführte eine schnelle Bewegung zum Hals der Schwertmeisterin.
Toshira tauchte unter der Klinge hindurch. Die Wache neben ihr wurde enthauptet. Der Kopf rollte noch durch den Staub, als der Körper seitlich auf den Boden schlug.
“Siehst du?”, Krelynn grinste. “Du wirst lernen, das Wissen um deine wahre Herkunft zu akzeptieren. So wie es auch deine Ziehtochter lernen wird. Sie wird sich in unserem — Zuchtprogramm besonders gut bewähren.”
“Nein!”, Toshira rammte dem links neben ihr stehenden Dæmon ihre Schulter ins Gesicht. Sie sprang hoch, zog die Füße an, versuchte die Arme nach vorne zu bringen. Es gelang ihr nicht. Die Fesseln saßen zu stramm.
Krelynn wartete, bis sie fast wieder den Boden berührte. Fegte ihr mit einem Stiefel die Füße unter dem Körper weg. Die Schwertmeisterin lag vor ihm am Boden.
Er richtete die Spitze ihrer eigenen Kasanklinge auf ihren Hals.
“Doch”, Krelynn lachte hämisch, “das wird sie. Ihr beide werdet es. Du selbst wirst an meiner Seite dafür sorgen, dass die überzähligen Menschen ausgedünnt werden. Denn du wirst erkennen, dass ich Recht habe. Deine Kinder und die deines Ziehbalgs werden der Beginn einer neuen Rasse. Sie werden die ersten sein, die Elestria für uns besiedeln.”
Er steckte das Schwert zurück. “Bringt sie in mein Zelt. Wir haben einiges zu bereden.”
“Viele sind am Ende ihrer Kräfte.” Luritri redete eindringlich auf Araneon ein. “Der Tross ist bereits seit zehn Stunden unterwegs.”
“Das sehe ich”, antwortete der Einäugige. “Ich würde ihnen gerne eine Pause gönnen. Aber wenn die Sonne aufgeht, und wir es nicht bis in die Ausläufer der Hügel geschafft haben, werden uns die Dæmonen finden und Jagd auf uns machen.”
Luritri fauchte. “Wenn wir Leute verlieren, weil sie zusammenbrechen, wird das auch nicht besser sein. Außerdem werden wir die Ausläufer niemals rechtzeitig erreichen. Wir haben vielleicht noch zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang.”
“Mir gefällt es auch nicht”, gab Araneon zurück, “aber auf diese Weise sterben weniger von uns.”
Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht.
Eine Frau brach erschöpft zusammen. Finola war sofort bei ihr. Es war ihre Mutter. “Geh nur. Geh weiter. Du musst in Sicherheit sein, bevor die Dæmonen kommen.”
“Nein”, Finola nahm sie in ihre Arme, “ich werde bei dir bleiben.”
Adriël hielt seinen Ætherschlitten neben den beiden Frauen an. Er war völlig überfüllt mit Kindern und Älteren.
Chan lief zu Finola und ihrer Mutter. Sie sah Adriël an. “Da hinten habe ich einen Hain gesehen. Ein oder zwei Meilen weiter vorn.”
Adriël schüttelte den Kopf. “In der Dunkelheit? Bist du sicher?”
“Da ist Æther. Holz. Ich kann es spüren. Ich bin völlig sicher.” Chan erhob sich. “Bring deine Passagiere dorthin. Dann holst du Finola und ihre Mutter ab.”
Adriël nickte. “Aye, Kapitän.” Er grinste.
Luritri und Araneon liefen zu Chan.
“Was hast du vor, Menschenkind?”, fragte Luritri.
“Ich werde sehen, was ich tun kann.” Chan klang trotzig. “Wartet hier, Adriël wird gleich zurück sein”, wandte sie sich an Finola und deren Mutter. Sie schwang sich auf Navars Rücken. Der Panther rannte los, dem Ætherschlitten hinterher.
In dem Hain angekommen setzte sich Chan auf den Boden. Die Umgebung summte förmlich vor Æther. So eine starke Konzentration hatte sie bisher noch nie verspürt. Sie legte sich auf den Waldboden. Schloss die Augen. Griff nach der Energie. Da war etwas. Eine Präsenz.
Tochter. Pheran, der Urdrache des Holzes, des erblühenden Lebens. Chan spürte, wie sich Wärme und Wohlbehagen in ihr ausbreiteten. Sie fühlte sich friedlich. Zu Hause. Vater. Ich bin hier. Ich brauche Hilfe. Die Leute aus Moran brauchen einen sicheren Ort. Viele k önnen nicht weiter. Sie sind erschöpft. Die Dæmonen sind auf der Suche nach uns. Ich werde Euch helfen. “Danke, Vater.”
Chan öffnete die Augen. Sie blickte in das Gesicht Finolas. Luritri hockte daneben. Ebenso Araneon.
“Geht es dir gut? Du hast von deinem Vater gesprochen.” Araneon wirkte besorgt.
Chan wollte eben zu einer Antwort ansetzen, als neben ihr ein Sprössling aus dem Boden wuchs. In kürzester Zeit hatte er den Leodar überragt, der sich zu ihnen gesellte. Der junge Baum bildete Äste aus. Weitere Sprösslinge wuchsen aus dem Boden. Ein Wald entstand.
“Bist du das etwa?” Luritris Stimme klang ehrfurchtsvoll.
“Nein”, Chan lachte. “Das ist mein Vater. Pheran.”
Die Flüchtlinge Morans um sie herum trugen die Botschaft an diejenigen weiter, die nicht nahe genug gestanden hatten, um Chans Worte zu verstehen. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer.
Adriël schritt in den Hain. Immer mehr Bäume sprossen um ihn herum. War dies Chans Werk? Vielleicht hatte er sie unterschätzt. Hätte er bloß früher von ihr gewusst. Ihre Fähigkeiten gekannt. Er musste darauf vertrauen, dass Silanas Urteilsvermögen das der Menschen überstieg. Sie würde die richtigen Entscheidungen treffen. Hoffentlich.
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