“Die Ereignisse der letzten Tage haben mir vor Augen geführt, dass ich niemals so lange hätte zögern dürfen. Ich hätte dir das alles viel früher sagen müssen.”
Toshira seufzte.
“Immerhin weißt du jetzt, woher du wirklich kommst. Warum du bei mir aufgewachsen bist. Zumindest weißt du, was ich weiß.” Toshiras Augen glitzerten.
“Seit diesem Tag, an dem ich wieder eine Stimme hatte, verging kein Tag, ohne dir dafür im Stillen zu danken. Du hast eine Gabe, Chan.
Du bist rein und klar wie ein Gebirgsbach. Deine Seele ist unverdorben. Nicht so, wie viele andere, die nur ihren Vorteil suchen. Krämerseelen, die nichts ohne Gegenleistung tun.
Es ist egal, ob deine Augen orange sind, oder ob dir plötzlich Hufe wachsen. Was zählt, ist dein Wesen. Du bist, was du bist.” Eine Träne rann Toshiras Wange herab. “Ich bin stolz auf dich, Kleines.”
Chan war sprachlos. Überwältigt. Sie hatte einen Kloß im Hals. Nie hatte sie geahnt, dass Toshi sie so sah. Sie umarmte ihre Ziehmutter. Zog sich näher an sie heran und legte den Kopf an ihre Schulter.
“Danke.” Sie drückte, so fest sie konnte. Sie wollte nie mehr loslassen. Doch sie musste, als sie einen Schrei hörte.
“Dæmonen!”
Der Warnruf stammte von Adriël. Über der Senke fielen dichte braune Ætherschlieren vom Himmel. Chan konnte nicht erkennen, woher der gespenstische Nebel stammte.
“Rasch”, Toshira zog sie mit sich, in den Bannkreis. Die Gefährten flüchteten sich hinein. Keiner fehlte. Chan kletterte auf einen Baum, der in der Mitte des Kreises stand.
“Was hast du vor?”, fragte Ladhar. “Komm sofort wieder da runter. Ich weiß nicht, wie hoch der Bann reicht.”
“Ich möchte herausfinden, wo der Æther herkommt.”
“Bitte Chan, lass das jemand anders erledigen.” In Toshiras Tonfall lag ein Flehen.
“Ich bin doch schon fast oben”, entgegnete Chan.
Sie erreichte die Baumkrone. Vor dem Sternenhimmel zeichneten kleine dunkle Gestalten ab. Æther strömte wie ein samtener Schleier von ihnen herab. Sie sahen aus, wie die Ætherlarven im Pritschenwagen des Dæmonenverstecks. Nur dass diese Exemplare über seltsam geformte Schwingen verfügten. Ähnlich denen von Fledermäusen.
Daf ür entführten sie also Menschen . Sie zogen ihnen Erd-Æther ab, um ihn verströmen zu können. “Diese verfluchten Ausgeburten der Hölle!”
Sie hatte laut gerufen ohne weiter nachzudenken. Ein Pfeil schwirrte dicht an ihrem Ohr vorbei. Eilig kletterte Chan nach unten. Ein Ast brach. Sie stürzte.
Tarodrim fing sie auf. “Langsam, Welpe.” Der Leodar stellte sie auf ihre Füße.
Chan dankte dem Löwengesichtigen. “Vielleicht können wir diese fliegenden Larven abschießen.” Sie zeigte nach oben. Die Baumwipfel versperrten die ohnehin durch die Dunkelheit erschwerte Sicht.
Vendira schüttelte den Kopf. “Selbst ein Schütze, der bei Sternenlicht zu treffen vermag, könnte hier nichts ausrichten. Vergiss nicht, ich kann sie nicht sehen.”
Es sirrte. Chan drehte sich. Etwas hatte sie angesprungen. Sie sah auf ihre Schulter. Ein Pfeil steckte darin. Ihr wurde übel. Sie fiel. Bevor die Schwärze sich vollends über sie ausbreitete, hörte sie Luritris Stimme. “Wir greifen an. Zange bilden.”
Ein Ruck ging durch Chans Körper. Sie schlug die Augen auf. Es war dunkel. Über sich sah sie ein von Flammen beschienenes Gesicht. Der Medicus, Menon. Er hielt den Schaft eines Pfeiles in der Hand, dessen vorderes Ende abgebrochen war. Sie lag auf der Seite. Es ruckte noch einmal. Ihre Schulter explodierte vor Schmerz. Sie wandte den Kopf. Ein weiteres Gesicht. Lormun. Eine Orc-Hand. Sie hielt eine glitzernde Pfeilspitze.
Menon hantierte, drückte etwas aus Stoff auf ihre Schulter. Chan schrie auf. Wehrte sich. Wurde von Lormun auf den Boden gepresst.
“Sachte, Lador Orc.” Menon legte seine Hand auf einen muskelbepackten Orcarm. Ihr sollt sie nur ruhig halten, nicht die Luft aus ihren Lungen pressen.”
Lormun grinste. “Das war doch sanft.”
“Ihr wisst schon, dass ihr über eine Anwesende redet?” Chan versuchte sich aufzurichten. Der Orc drückte sie zurück. “Du musst liegen bleiben. Ihr Menschen seid etwas empfindlich gegen Pfeile.”
“Ich glaube ich komme jetzt allein zurecht.” Der Medicus schob den Orc beiseite. Lormun zuckte mit den Schultern. “Wenn du unbedingt mit ihr allein sein willst.”
Er lachte, als er sich einen anderen Platz suchte.
Als Chan in der Lage war, sich an einen Baum zu lehnen, erklärte Adriël, was geschehen war. “Drei Späher. Sie hatten darauf gesetzt, dass wir uns im Bannkreis verschanzen. Die Burschen lernen schnell. Zum Glück hatte Luritri den richtigen Riecher.” Er tippte sich mit dem Zeigefinger an den Nasenflügel. “Wir haben einen Ausfall riskiert. Zwei sind tot, einer ist entkommen.”
“Wie habt ihr sie getötet?”
“Wir haben sie in den Bannkreis gezogen, nachdem Vendira ihnen je eines ihrer Kurzschwerter in den Hals gebohrt hatte. Es ist zwar eine grausame Taktik, aber sie funktioniert. Ich schätze, das geht in Ordnung. Aber es gefällt mir dennoch nicht.”
Chan nickte. “Mir gefällt es auch nicht, zu töten. Noch weniger will ich meine Freunde sterben sehen.”
Adriël legte ihr eine Hand auf die gesunde Schulter. “Das geht uns allen so. Vielleicht abgesehen von dem Orc.
Er seufzte. “Ich bin froh, dass es nicht dein Herz war, das durchbohrt wurde. Menon sagt übrigens, alle Sehnen sind heil.”
Wenig später schilderte Chan den anderen ihre Beobachtungen. Wie sie im Fort und auch vorhin beobachtet hatte, wie die Tiere, die sie Æthervögel taufte, braunen Erd-Æther verströmten. Und was sie in Bezug auf die Ætherlarven im Lager mit den Pritschenwagen geschlossen hatte: dass sie als Larven auf der Brust ihrer “Wirte” lagen und diese aussaugten, um den gespeicherten Æther später zu verströmen.
Ladhar nickte. “Das ergibt einen Sinn. Sie könnten eine Art Stadium durchmachen, wie Schmetterlinge.”
Araneon, ihr Anführer, legte dem Gelehrten eine Hand auf die Schulter.
“Gut kombiniert. Der Æther ist ihr Trumpf. Und ihre Schwachstelle. Vielleicht können wir das eines Tages zu unserem Vorteil nutzen.”
Luritri hatte mit Lormun für den Rest der Nacht das Lager bewacht. Nun schliefen sie im hinteren Teil des Ætherschlittens. Chan ritt auf Navar neben Adriëls Gefährt her. Ihre Schulter schmerzte bei jedem Schritt.
Schließlich hielt der Halb-Lordrianer an. “Steig ein. Du wirst immer blasser. Ich fahre keinen Schritt weiter, bevor du nicht vom Rücken deines Panthers steigst.” Sein Tonfall schwankte zwischen Befehl und Besorgnis.
Chan stieg dankbar ab. Adriël half ihr, sicher in den schwankenden Rumpf des Schlittens zu steigen.
Navar knurrte.
“Alles in Ordnung”, versicherte Chan ihrem Reittier. “Ich bin nur etwas schwach.” Sie übermittelte der Reitkatze ihre Empfindungen. Den Schmerz in der Schulter, das Schwindelgefühl.
Navar schüttelte den Kopf. Dann stellte er die Ohren auf, schnaubte und trabte weiter.
Sie saß Adriël zu Füßen, den Kopf an die Bordwand gelehnt. Der Schmerz in der Schulter klang ein wenig ab. “Wie bist du eigentlich zu unseren Reisegefährten gestoßen?” Chan sah zu ihrem blauhäutigen Kutscher auf.
“Das ist eine lange Geschichte. Ich schätze, wir haben genug Zeit dafür.”
Er warf Chan einen langen Blick zu. “Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen. Mein Vater zog in den Krieg gegen Thororn, als sie mit mir schwanger war. Er war Lordrianer.”
“Hast du ihn je kennen gelernt?”
“Nein. Er starb in den Sholo’Sa-Kriegen. Wie ich hörte, in seiner ersten Schlacht. Er war ein Bogenschütze. Dies hier”, er zog einen kristallenen Bogen aus einem Schacht in der Bordwand, “habe ich später als Andenken an ihn erhalten. Der Bogen wurde vom Schlachtfeld geborgen und meiner Mutter übergeben.”
Читать дальше