Verena Swoboda - Süchtig nach Likes

Sieben Uhr in der Früh. Ich wache auf, weil mein Wecker läutet und quasi im gleichen Augenblick fällt mir ein, dass ich früher geweckt werden wollte. Es bleibt mir keine Zeit zu frühstücken, aber das ist nicht weiter schlimm, da ich am Wochenende ohnehin so viel gegessen habe, dass ich eigentlich die ganze Woche nichts mehr brauche.

Nachdem ich den Wecker ausgestellt habe, geht mein erster Blick zu Facebook. Gestern habe ich ein Video gepostet, auf dem ich mit meiner Schwester Musik mache. Julia hat wirklich eine gute Stimme. Ich finde das Video genial, aber gestern Abend gab es nur fünf andere Personen, die auch meiner Meinung waren und das Video geliked haben. Ich verstehe es nicht. Aus Frust habe ich Schokolade, Chips, Soletti und Cola in mich hineingestopft. Und das um elf Uhr am Abend. Als ich also in der Früh aufwache, ist es zwar schon ziemlich spät, aber ein Blick auf Facebook muss schon drin sein: ein neuer Like. Und der ist von meiner Tante. Ich bin enttäuscht und überlege, warum niemand das Video toll findet. Auch auf der Seite von Julia habe ich es gepostet. Dort gefällt es noch niemandem.

In der Straßenbahn schaue ich wieder auf Facebook. Gut, dass es heutzutage schon so einfach ist und ich auch von meinem Handy aus ganz unkompliziert hinein kann. Geholfen hat es allerdings nichts. Es ist kein neuer Like für mein Video dazu gekommen. Als ich auf der Arbeit ankomme, schaue ich wieder auf Facebook. Manchmal habe ich das Gefühl, je öfter ich schaue, desto weniger Likes gibt es. Vielleicht ist Sonntagabend auch ein schlechter Zeitpunkt, um etwas zu posten. Ich werde das Video einfach etwas später selbst liken. Dann erscheint es bei meinen Freunden wieder in der Timeline; vielleicht kann ich so den einen oder anderen Like dazu bekommen.

Während ich so bei der Arbeit sitze, kommt mir eine weitere Idee. Ich überlege, was ich als Nächstes posten könnte. Da fällt mir ein, ich könnte es einmal mit professionellen Fotos versuchen. Ich bin mit einigen Fotografen befreundet - auf Facebook. Manche von ihnen kenne ich sogar persönlich. Richard scheint mir geeignet dafür zu sein. Ich hätte gerne ein Shooting mit meiner Schwester Julia. Es sollte im Freien sein und am besten irgendwo in der Stadt. Die Fotos hätte ich gerne in Schwarzweiß. Ich werde Richard einmal meine Idee schreiben und ihn fragen, was das Ganze in etwa kosten würde.

So schnell werden die Fotos allerdings nicht fertig sein. Ich überlege weiter, was ich in der Zwischenzeit posten könnte. Mir fallen ein paar Dinge ein. Ich schreibe alles auf. Mein Facebook-Leben ist sehr strukturiert. Muss es auch sein, denn sonst würde ich komplett durcheinander kommen. Ich brauche ein Foto mit einer meiner großen Gitarren, das sich zum Posten und auch als neues Profilbild eignet. Das muss ich machen. Aber das geht auch nicht sofort. Na gut, ich denke, für den Moment muss es genügen, dass ich unser Video like, teile und noch einmal teile. Ich hoffe sehr, dass das zu mehr Likes führt. Zusätzlich kann ich dann noch ein paar Leute einladen meine Seite zu liken. Dort wäre es auch schön noch mehr Likes zu bekommen.

So, eine Stunde gearbeitet und Mittagessen besorgt. Sogar mit einer Kollegin habe ich mich ein bisschen unterhalten. Jetzt werde ich erneut einen Blick auf Facebook werfen. Juhu, ein neuer Like für unser Video. Jetzt sind es insgesamt schon sieben. Ich fühle mich etwas besser. Auch auf meiner Seite gibt es Neuigkeiten. Vier neue Likes seit gestern. Ich fühle, wie ich immer glücklicher werde. Ich werde kurz etwas essen und dann gleich vier neue Leute einladen meine Seite zu liken. Immerhin gefällt sie mittlerweile 159 Personen.

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