Sie begann vor 4000 Jahren und sorgte für die unterschiedlichsten Ausprägungen seiner Art. Sie hatten ihr Aussehen im Laufe der Jahrtausende und Jahrhunderte verändert, hatten sehr verschiedene Einflüsse erfahren. Heute war sein Volk eines der größten auf der Welt. Sie hatten sich durchgesetzt, waren standhaft und stark und hatten sich immer angepasst, um nicht in eine evolutionäre Sackgasse zu geraten. Und das war nicht einfach gewesen, da es durchaus Konkurrenz gab. Immerhin gab es Entwicklungen, die dafür gesorgt hatten, dass sich ganz neue Ethnien den kulturellen Umständen entsprechend ausgebildet hatten und es nur mit gewissem Aufwand möglich war, die Kommunikation aufrecht zu erhalten. Diese Besonderheiten zeigten aber auch die Vielfalt von Entwicklungen im Kontext der Bedingungen eben dieser. Sie waren allesamt physisch in der Welt präsent und allerorten wahrnehmbar. Während er im Kopf diese Gedanken entwickelte, prüfte er die heutige Post. Balthasar hatte heute Morgen die Nachricht bekommen, dass wieder einmal eine Sitzung anstand. Er gehörte dem Ältestenrat seines Volkes an. Diese Sitzungen fanden regelmäßig statt und hatten das Ziel, alle Vorkommnisse zu besprechen und diese zu überdenken. Gleichzeitig war man dazu übergegangen, die Vorgänge zu archivieren. Auf diese Weise konnten auch alle anderen nachvollziehen, wie einzelne Entscheidungen zustande gekommen waren. Die Offenheit, mit der dies betrieben wurde, hatte das Vertrauen der Bevölkerung in den Rat gestärkt. Es gab hier zwar durchaus eine lebendige Diskussionskultur, jedoch auch die Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen. Wenn man Balthasar sah, fiel sofort seine symmetrische Gestalt auf, die ihn auch sehr stolz machte. Er betonte beim Sprechen stets den Buchstaben „B“, er dachte, er könnte so seine Bedeutung noch hervorheben, da sein Name mit B begann. Auf diese Weise entstand in seinem Sprachmuster ein komisches Gefälle von dem fast spuckend ausgesprochenen „B“ bis zu den nachfolgenden Buchstaben. Man konnte meinen, dass er andeuten wollte, dass Balthasar zuerst da war und dann erst der Rest der Welt. Diese Überhöhung wies den Weg zu seinem Charakter. Balthasar war eitel und hielt sich für sehr schlau. Er war der Meinung, dass der Ratsvorsitz ihm allein zustand, seine arrogante Art war für viele im Rat ein rotes Tuch. Seine Sprache wirkte künstlich, er versuchte sich in komplizierten Redewendungen, um Eindruck zu machen, verlor hier jedoch manchmal selbst die Übersicht und dies führte zu den komischsten Sprachgebilden, was bei den Anderen Schadenfreude auslöste, die sie jedoch nicht offen zeigten. Im Allgemeinen war sein Sprachtalent aber gewaltig. Er wurde von den anderen auch deshalb geachtet, weil er die größten Visionen entwickeln konnte, die in ihrer Klarheit und Tiefe von den anderen nicht erreicht wurden. Seine Beiträge zu ihrer Gemeinschaft nahmen einen besonders großen Raum ein. Er war aber auch manchmal sehr aggressiv und selbstsüchtig. Nichtsdestotrotz wirkten die anderen regulierend auf ihn und alle waren einstimmig der Meinung, dass die Beiträge von Balthasar seine besonderen persönlichen Ausprägungen mehr als ausglichen. Balthasar war derjenige im Rat, der die meisten Veränderungen angestoßen hatte, oftmals jedoch mussten die anderen zusammenarbeiten, um allzu einschneidende Vorschläge abzumildern. Immerhin schienen Balthasar diese gelegentlichen Situationen, er gegen alle, nicht besonders zu tangieren. Er erhob zwar oftmals Widerspruch, aber in der jeweils folgenden Diskussion verzichtete er letztlich auf eine finale Konfrontation. Er befürchtete einen Autoritätsverlust einhergehend mit einer Minderung seiner Einflussmöglichkeiten. Trotzdem stellten ihn solche Prozesse nicht zufrieden, da sein Blick immer auf die Zukunft gerichtet war und er Veränderungen in den Mittelpunkt seiner Zufriedenheit stellte. Für ihn waren genau diese unsteten, unter Anpassungs- und Steuerungsdruck befindlichen Veränderungsprozesse die Würze des Lebens. Und er war in einem bestimmten Umfang rücksichtslos, wobei er dies erkannte, es aber für unabdingbar hielt, um für seine Familie Vorteile zu erreichen und um seinen Willen zu bekommen. Andererseits fand er, dass er auch für sein Volk wichtige Dienste verrichtete. Waren die anderen gebunden durch ihre Nähe zu den Traditionen und den meist daran hängenden starren Ritualen, begriff er sich eher als konventionslosen Freigeist. Er fand, dass er so sehr viel weiter über den Tellerrand schauen konnte als die anderen. Das er mehr in der Zukunft lesen konnte als die anderen und dass er offener und vorbehaltloser auch schwierige Entwicklungen begleiten konnte. Tatsächlich war er derjenige, der sich mit Abstand vor den anderen auch eher einer Ungewissheit stellen konnte. Er war mit sich zufrieden, wenngleich man manchmal die Wahl seiner Mittel verurteilen konnte.
Gabriel
Ein weiteres Mitglied des Rates war Gabriel. Wie auch Balthasar erhielt Gabriel eine Benachrichtigung. Gabriel liebte Gedichte, seine Welt war eine rhythmisch geordnete. Er versuchte immer die Wahrheiten der Welt auf einen rhythmischen, melodischen Nenner zu bringen. Er beherrschte die Kunst des Dichtens wie kein Zweiter. Er war eine elegante Erscheinung und gab sich als nobler Gönner der schönen Sprache. Er lebte dies auch vor, seine Welt bestand aus konzentrierten Wahrheiten, mal im melodischen Einklang, mal schwer zu ergründen. Jedenfalls schien er von dieser inneren Rhythmik so eingefangen, dass auch seine körperlichen Bewegungen eine Geschmeidigkeit und Gefälligkeit für das Auge entwickelt hatten, das es eine Freude war, ihn zu sehen und zu hören. Seine Gestalt war ein einziges harmonisches Konzept. Er bewahrte die Welt, wie sie war, er war gegen unkontrollierbare Veränderungen. In vielen Diskussionen hatte sich seine Meinung als gegensätzlich zu der von Balthasar herausgestellt. Gabriel stand für Beständigkeit und Tradition, Balthasar dagegen wollte deutliche Spuren der Veränderung hinterlassen. Gabriels Harmonie war auch ein Spiegelbild seines ganzheitlich harmonischen und zufriedenen Lebens. Er übertrug dieses in sich Ruhen auch im positiven auf die anderen Ratsmitglieder und für keine geringe Zahl von ihnen war er ein ganz persönliches Vorbild. Gabriel war zufrieden und konnte in dieser Zufriedenheit ruhen. Er brauchte keine Veränderung um dieses Gefühl herzustellen. Er sah nicht in einem anders, mehr und größer das Glück, sondern in einem Prozess, der immerzu intensiv und mit großer Anstrengung begleitet werden musste, um zu dem Punkt der Zufriedenheit zu gelangen, den er doch schon erreicht hatte. Dieser Prozess war vor allem darauf ausgerichtet, die alten Regeln, Rituale und Gesetze genauestens zu befolgen und zu leben. Die Festigung des Althergebrachten war eins seiner Lebensziele. Die Geschmeidigkeit, die ihn auszeichnete, basierte auf dieser tiefen Verbundenheit zu den Traditionen, er konnte diese perfekt leben und vorleben. Man könnte fast sagen, er war die personifizierte Tradition. Diese perfekte Verbundenheit machte ihn zu einer führenden Persönlichkeit seiner Art. Es schien in ihm auch zu keiner Zeit Widerstände gegeben zu haben, die diese enge Symbiose hätten verhindern können. So schien er einer von tausend oder mehr zu sein, die vom Schicksal mit höchster Kompatibilität in seine Zeit geschickt wurde.
Das Acomu
Die Sitzung sollte wie immer im Acomu stattfinden, der Name stand für ad cognitionem mundi und bedeutete Wissen der Welt. Man hatte das Ganze abgekürzt um es einfacher aussprechen zu können und wie viele andere Begriffe war Acomu mittlerweile zu einem Synonym geworden, das einfach eingesetzt und nicht mehr hinterfragt wurde. An diesem Ort wurden alle Geschehnisse von dem Ältestenrat aufgenommen, vergegenwärtigt und zu den Akten gelegt. Auch die einzelnen Beiträge des Ältestenrates waren hier zu finden, wie auch die Beschlüsse und alles andere. Letztlich war dies ein Archiv mit der Möglichkeit jederzeit die Entwicklungen nachzuvollziehen und gleichzeitig den Bestand von Wissen und Werken anzusehen. Kleinere Ableger waren über das Land verstreut und wie in den Großstädten sammelten sich dort erhebliche Bevölkerungsanteile. Diese Ballungszentren waren ebenfalls mit umfangreichen Wissensbeständen ausgestattet und standen dem Acomu um nicht allzu viel nach. Jedoch, was die geschichtlichen Aufzeichnungen anging, konnten sie nicht mithalten. Außer diesen Ballungszentren gab es aber auch weltweit die unterschiedlichsten Zentren, da sich ihre Art im Laufe der Jahrtausende und aufgrund der regionalen Besonderheiten ganz verschieden entwickelt hatte. Jedenfalls gab es in diesen auf der Welt verteilten Zentren, die jeweilige konzentrierte Präsenz der jeweils dort ansässigen Vertreter seiner Art. Das Bauwerk war mit Tradition so durchdrungen, dass es eine eigene Ausstrahlung besaß. Hier war der Sinn ihrer Existenz konzentriert. Die Mächtigkeit der Präsenz dieser Mauern spürte jeder, der das Acomu betrat. Sie war Anlass dafür, in sich zu kehren und die eigene Existenz zu reflektieren und herauszufinden, wo man hinsichtlich der Verpflichtungen der Geschichte stand.
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