»Na, nun komm' schon näher!«, forderte er sie erneut auf. »Ich will nicht so laut reden müssen!«
Sie machte zwei Schritte auf ihn zu.
»Und? Erkennst du mich wieder?«, fragte der Mann lächelnd.
»Pierre?«, flüsterte Amélie ungläubig.
»Ja, so nennt mich die alte Inès immer«, schmunzelte er und gestand: »Aber in Wirklichkeit heiße ich anders.«
»Ach so!«, reagierte sie ungewollt einsilbig. Was willst du nur von mir? , fragte sie sich still. Willst du dein Geld zurückhaben? … Oh, nein! Das bekommst du nicht. Dann laufe ich gleich ganz schnell davon! Und wenn du mir nachrennst, dann schreie ich so laut ich kann. So laut, dass man es noch am Strich hört! »Was wollen Sie von mir?«, stotterte sie.
»Bist du allein?«, wollte er wissen und ließ ihre Frage unbeantwortet.
Sie schwieg.
Er erkannte an ihrem unsteten Blick, dass sie kurz davor war zu flüchten. »Ich möchte nur mit dir reden«, erklärte er deshalb schnell.
»Mit mir?« Sie starrte ihn verwirrt an. »Aber warum denn?«
»Ich möchte dir einen Vorschlag machen« Er versuchte so beruhigend wie nur irgend möglich zu sprechen. »Kann ich mir dir reden?«
»Ja«, meinte sie darauf zögernd. »Also?«
»Nicht hier.« Er schaute sich um. »Kennst du ein Lokal, in das wir gehen können?«
»Nein.«
»Dachte ich mir schon«, nickte er. »Du bist wohl noch sehr jung, wie?«
Amélie schwieg.
»Komm' mit.« Er ging die Straße entlang und bog in die nächste Gasse ein. Dabei drehte er sich nicht um und wusste dementsprechend nicht, ob sie ihm auch tatsächlich folgte.
Amélie war so verwirrt, dass sie einfach mitging. Ich kann ja immer noch abhauen, wenn es mir nicht gefällt , dachte sie. Ich kenne mich gut in diesem Viertel aus, bin hier ja aufgewachsen. Ehe er sich versieht, springe ich über eine Mauer und bin weg.
*
Dann standen sie vor dem › La Goutte‹ und Pierre öffnete die Tür der Bar.
Als Amélie ihm folgen und eintreten wollte, starrte der Rauswerfer sie finster an.
»Verschwinde! Aber ganz schnell, ehe ich dir Beine mache!« Er deutete unmissverständlich nach draußen.
Amélie zuckte zusammen und schämte sich ihrer schmutzigen Kleidung.
»Sie gehört zu mir!«, ließ Pierre ihn wissen.
Der Rauswerfer runzelte die Stirn. »Ach so!«, knurrte er, nachdem er ihn gemustert und im düsteren Licht dessen Bonität positiv beschieden hatte.
»Ich will eine versteckte Nische«, forderte Pierre. »Wir wollen den Gastraum nicht betreten!«
»Na, darum möchte ich auch gebeten haben«, grinste der Türsteher und wurde etwas zugänglicher, als eine Banknote den Besitzer wechselte. »Ich gebe Ihnen sofort Bescheid. Warten Sie hier bitten einen Augenblick, Monsieur le Grand!«
Amélie starrte Pierre an. »Was hat er gesagt?«, flüsterte sie.
»Mein liebes Kind, gebe jemandem ein großzügiges Trinkgeld und er nennt dich Kaiser.« Er lächelte dünn.
»Aha!«
Der Rauswerfer kam wieder zurück. »Ich werde Sie führen.«
Amélie hatte noch nie eine Bar von innen gesehen. Raphael hatte ihr schon Wunderdinge darüber erzählt. Wenn seine Taschen voll waren, besuchte er sie der Reihe nach, bis er auch den letzten Cent ausgegeben hatte. Sie folgte den beiden und schlich an spärlich beleuchtetem rotem Samt vorbei und vernahm die gedämpfte Musik. Dann fand sie sich in einem sehr kleinen Raum wieder, in dessen Hintergrund eine breite Liege stand – auch sie war mit Samt bezogen. Vor Staunen bekam sie den Mund nicht mehr zu.
Pierre bedeutete ihr, sich an den kleinen Tisch zu setzen, und kaum hatte sie sich auf dem Stuhl niedergelassen, erschien wie aus dem Nichts ein Kellner.
»Was möchtest du gern haben?«, erkundigte sich Pierre freundlich.
Ich habe Hunger , dachte sie, und wenn er mich schon so direkt fragt, warum soll ich es ihm dann nicht sagen? »Kann ich etwas zu essen haben?«
Er nahm die Speisekarte, studierte sie einen Augenblick und gab dem Kellner seine Anweisungen.
»Ganz wie Sie wünschen, Monsieur«, dankte der Bedienstete und verschwand zwischen den roten Vorhängen.
Am liebsten hätte sie einen Blick dahinter geworfen, denn die Musik reizte sie und auch das Stimmengemurmel. Aber sie traute sich nicht. Das ist alles nur ein Traum , dachte sie. Wirklich, ein sehr schöner Traum. Aber gleich wache ich auf, und dann liege ich wieder in meinem Bretterverschlag. Ich muss später Raphael fragen, ob ich richtig geträumt habe, das darf ich nicht vergessen.
»Du wunderst dich wohl, dass ich dich hierher mitgenommen habe, wie?« Pierre schaute sie lächelnd an.
Sie hatte einen trockenen Mund bekommen. Als sie bejahen wollte, brachte sie keinen Ton heraus, weshalb sie schnell nickte.
»Wie alt bist du?«, fing Pierre ein anscheinend unverfängliches Gespräch an.
»Bin gerade achtzehn geworden.«
»Ich habe dich für jünger gehalten.«
»Das tun alle, weil ich nach nichts aussehe ...«, stellte sie düster fest. »Ich bin eben eine Vogelscheuche, verstehen Sie?«
»Na ja, so würde ich mich aber nicht ausdrücken. Mir gefällst du, Kleines.«
Fassungslos sah sie ihn an. »Wie bitte?«, fragte sie irritiert, ohne zu verstehen.
»Ja, du hast das gewisse Etwas«, nickte er. »Ich kann es nicht genau in Worte fassen, aber da ist etwas Besonderes an dir.«
Amélie spürte, dass sie einen hochroten Kopf bekam. Vielleicht … , dachte sie, vielleicht will er mich einfach nur ins Bett bekommen? Ach, du meine Güte, daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Ich werde verrückt! Sollte es heute soweit sein? Werde ich jetzt erfahren, wie es ist, wenn man mit einem Mann schläft. Ein Glück, dass es hier so dunkel und schummerig ist. Da kann er wenigstens meine erbärmliche verschlissene Unterwäsche nicht sehen ... Was er mir wohl dafür zahlt?
»Hörst du mir eigentlich zu?«, riss er sie aus ihren Gedanken.
»Wie? Was?« Sie war völlig durcheinander.
In diesem Moment öffnete sich wieder der Samtvorhang und der Kellner kehrte mit einigen köstlich duftenden Dingen an den Tisch zurück.
»Wir bedienen uns schon selbst«, ließ Pierre den Kellner wissen, nachdem dieser etwas auf die Teller vorlegen wollte.
»Wie Sie wünschen, Monsieur«, verbeugte er sich und ließ sie wieder allein.
Pierre nahm das Besteck und legte ihr etwas auf ihren Teller.
In Amélies Augen leuchtete es auf. »So etwas Feines habe ich noch nie bekommen.«
»Wenn du magst, dann kannst du das jeden Tag haben!«, schmunzelte ihr Gastgeber.
Amélie lächelte ihn an und wieder war da dieses hübsche Lächeln auf ihrem Gesicht, das sie viel zu selten zeigte. »Wollen Sie mich jetzt jeden Tag hierher einladen?«
»Nein, ganz sicher nicht«, lachte er.
»Habe ich doch gewusst.« Der helle Schein in ihren Augen erlosch.
»Nun iss dich erst einmal satt, und erst dann erzähle ich dir alles«, forderte er sie mit sanfter Stimme auf.
Amélie bemühte sich, manierlich zu essen. Zu Hause hatte man ihr dergleichen nie beigebracht. Aber Miss Dupont, ihre Nachbarin, besaß einen Fernsehapparat und dort schaute sie oft zu. Dort hatte sie auch gesehen, wie vornehme Leute essen und wusste, dass die ihr Essen nicht wie Wilde herunterschlangen. Sie ließ es sich munden und bemerkte nicht, wie er sie die ganze Zeit über lächelnd beobachte.
Er studierte sie genau und er schien zufrieden mit dem, was er sah. Ein Juwel unter einer rauen Schale , dachte er bei sich. Ich habe es gewusst. Mein Instinkt hat mich nicht betrogen. Aber noch weiß ich nicht, was genau es ist … was an ihr mich so anzieht. Sie hat etwas Wissendes an sich, so als könne ihr so leicht niemand etwas vormachen. Und dann dieses kurze aufblitzende Lächeln. Sie sollte wirklich mehr lächeln. Es steht ihr ausgezeichnet ... Geschickt fragte er sie während des Essens aus.
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