Amélie
Wo Schatten ist
Amélie
Wo Schatten ist
Genèvieve Dufort
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar
1. Auflage
Covergestaltung:
© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel
Coverfoto:
© 2019 Depositphotos.com
Dieses Buch enthält sexuell anstößige Textpassagen und ist
für Personen unter 18 Jahren nicht geeignet. Alle beteiligten Charaktere sind frei erfunden und volljährig.
Impressum
Copyright: © 2019 Genèvieve Dufort
Übersetzer: Susann Smith & Thomas Riedel
Verlag: Kinkylicious Books, Bissenkamp 1, 45731 Waltrop
Druck: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks
»Du bist die Blume aller Blumen,
alles an dir ist Paradies.
Dein Blick, die zarten Hände,
dein Duft, die Lenden.
Ein ganzes Lied möcht ich dir schenken,
und dich in deiner Schönheit loben.«
Beat Jan
Kapitel 1
»› Souriceau ‹, was willst du hier! ... Verdammt! Verschwinde!« oder sehr viel Schlimmeres, bekam das unscheinbare, sich zumeist unsichtbar machende Mädchen immer wieder zu hören. Dabei wurde sie von allen abwertend nur › Souriceau ‹ genannt – Mäuschen, wegen ihres spitzen Gesichtes. Amélie Chivier gefiel es zwar nicht, aber sie schwieg dazu. Die junge achtzehnjährige wirkte abgemagert und zierlich, fast schon ein wenig androgyn. Bei einer Größe von einsdreiundsechzig mit gerade einmal achtundvierzig Kilogramm war sie sogar leicht untergewichtig. Das blonde Mädchen mit saphirblauen Augen war immer durch ihr Umfeld eingeschüchtert. Was hätte sie auch sagen oder tun sollen? Was dagegen unternehmen können? Hätte sie sich darüber auch nur einmal beschwert, wären die Menschen in ihrem Umfeld nur noch fieser mit ihr umgesprungen und hätten es erst recht auf sie abgesehen. Menschen, dass hatte sie inzwischen schmerzhaft gelernt, konnten unvorstellbar grausam sein.
Und das galt nirgendwo mehr als im › Achtzehnten Arrondissement ‹ im Norden von Paris – im Stadtviertel › Quartier de la Goutte-d'Or ‹, wo die Bewohner im ewigen Sog der Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit in den Ausguss des Lebens gespült wurden. Die guten Zeiten des › Goldenen Tröpfchens ‹, wie das Viertel hieß, waren schon lange vorbei – die Zeiten, in denen die Bewohner hier noch edlen Weißwein produzierten. Jetzt entsprach die Gegend mehr und mehr einer Beschreibung aus Émile Zolas Roman › Der Totschläger ‹.
Amélie quälten die immerwährende Entwürdigung und Missachtung ihrer Person schon lange. Die meiste Zeit kam sie mit dieser Situation einigermaßen zurecht. Doch es gab Tage, an denen es ihr nicht gelingen wollte, sich über all diese Dinge hinwegzusetzen oder sie wenigsten zu ignorieren – insbesondere, weil sie keine Menschenseele hatte, der sie sich anvertrauen und mit der sie darüber reden hätte können. Die Leute haben ja recht damit , schalt sie sich oft, ich sehe wirklich übel aus. Keine ist hässlicher. Ich bin der Schrecken der Straße. Was soll’s! Ich muss mich eben damit abfinden.
Amélie lebte in einem völlig heruntergekommenen Haus und hatte Eltern, die sich kaum um sie kümmerten. Und noch viel schlimmer empfand sie, dass sich ihre Mutter laufend darüber aufregte, dass sie, ihre › Große ‹, nicht so verschlagen und gerissen war, wie die anderen Straßenkinder.
»Die kommen alle zurecht! Die wissen genau wo es langgeht! … Aber du!?« Andauernd hielt sie ihr das in einem aggressiven Ton vor. Und immer, wenn Amélie diese Litanei wieder einmal über sich ergehen lassen musste, dabei verängstigt in der Küche herumstand, zitterte sie innerlich am ganzen Leib und wagte es kaum noch zu atmen.
Am allerschlimmsten von allen trieb es aber ihr älterer Bruder Raphael. »Wenn du wenigstens noch etwas hermachen würdest, du hässlicher Vogel ...«, höhnte er regelmäßig und deutete dabei mit den Händen eine üppige Oberweite an, »dann könnte man ja noch etwas mit dir anfangen ... Aber du bist doch echt der reinste Männerschreck! So eine wie dich, packt doch nicht mal einer mit Schutzhandschuhen und einer Kneifzange an!«
»Wieso sagst du das?«, stammelte Amélie dann und versuchte verzweifelt ihre aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. »Ich kann doch nichts dafür!«
»Mensch, halt doch einfach die Fresse! Wer will denn schon wissen, was du denkst?!«
»Genau!«, stimmte ihre Mutter ihm zu und warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Du kannst doch höchstens als Putze herhalten. Aber selbst dazu bist du noch zu blöde!«
Amélie schluckte die Demütigungen herunter und drückte sich dabei noch enger an die Wand, in der sie sich am liebsten aufgelöst hätte.
»Zieh' bloß Leine! Los! … Verschwinde!«, herrschte ihr Bruder sie lautstark an. »Was willst du noch hier? Verpiss' dich endlich, klar?!«
Wie immer saß ihr Vater apathisch in seiner Ecke. Er kümmerte sich nicht darum, was um ihn herum vorging und war froh, wenn er regelmäßig seinen Schnaps bekam. Für alles Andere interessierte er sich schon lange nicht mehr.
»Bei dem ist sowieso Hopfen und Malz verloren ...«, hatte die zuständige Frau von der › Aide Sociale ‹ einmal gesagt. »Ein weiterer Alkoholentzug wird eh wieder nicht lange vorhalten. Er ist schlicht nicht therapierbar.«
Amélie kannte diese hochgewachsene Frau mit dem grauen Mantel recht gut. Doch auch wenn sie hier war, traute sie sich nicht, den Mund aufzumachen. Dabei hatte sie so viele Fragen, die ihr auf den Nägeln brannten. Vor allen Dingen hätte sie gern gewusst, wie man so etwas wird wie sie. Sie wünschte sich von ganzem Herzen aus diesem Sumpf herauszukommen, um nicht so zu werden wie ihre Eltern und ihr Bruder. Auf keinen Fall wollte sie für immer in diesem Viertel leben müssen. Ich muss einen Beruf erlernen, mit dem ich den Menschen nützlich sein kann , sagte sie sich oft, vielleicht akzeptieren sie mich dann?
*
Langsam stieg sie die ausgetretenen Holzstufen im Hausflur hinunter. Sie war deprimiert über die eingefahrene Situation. Mit ihren gerade einmal achtzehn Jahren nahm man das ganze Leben sehr schwer.
Auch in der Schule war es nicht besonders gelaufen. Sie hatte sich nicht gerade als eine große Leuchte gezeigt. Aber die Lehrer hatten sich mit den Kindern aus diesem Viertel auch nie wirklich Mühe gegeben. So klein die Kinder auch waren, sie spürten instinktiv die Ablehnung der übrigen Welt, was dazu beitrug, dass sie noch härter gegen alles und jeden wurden. Wer im › Quartier de la Goutte-d'Or ‹ seine Ellbogen nicht einzusetzen lernte, der ging mit wehenden Fahnen unter …
… und Amélie war am Ertrinken.
Eine Weile verharrte sie reglos auf der Straße vor dem Haus. Dann schlenderte sie in Richtung des Straßenstrichs, wo sie direkt auf Inès traf.
Inès war in ihren Augen eine richtig alte › Putain ‹, eine erfahrene Hure, die ihr fünfzigstes Lebensjahr schon lange überschritten haben musste, wenngleich niemand ihr genaues Alter kannte. Wie immer hatte sie ihre erstaunlicherweise noch schlanke Figur ganz in schwarz gehüllt. Ihr nur selten nachgefärbtes langes und strähniges Haar, war im Ansatz bereits silbriggrau geworden. Ein Umstand, den sie hasste. Aber ihr weniges Geld in Alkohol umzusetzen, war ihr wichtiger als ihr Aussehen. Auch heute trug sie ihre auffällige Arbeitskleidung: ein Blouson und einen ledernen Minirock, dazu Strümpfe und Schaftstiefel.
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