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In vier Wochen stand schon die Kartoffelernte an und da würde jede helfende Hand auf dem Feld gebraucht werden, auch ihre und die ihrer Kinder, überlegte sie weiter. Es wäre eine große Erleichterung für sie, wenn sie sich dann nicht mehr so viel um die alte Frau kümmern müsste. Wenn diese doch wenigstens wieder rechtzeitig merken würde, dass sie Wasser lassen musste und wieder ohne ihre Hilfe zur Toilette gehen könnte, dann wäre ihr schon sehr geholfen. Laufend das Bett der alten Frau frisch zu beziehen und die ganze, von Urin durchtränkte Leib- und Bettwäsche waschen zu müssen, war nicht nur eklig sondern beanspruchte zudem so viel Zeit, die sie im Moment gar nicht hatte. Morgen bekäme sie von der Nachbarin einen Toilettenstuhl, den man neben dem Bett ihrer Schwiegermutter aufstellen könnte. Das würde auch schon helfen, wobei sie gar nicht daran denken durfte, dass sie dann nicht nur täglich den stinkenden Inhalt der Schüssel leeren, sondern auch den Toilettenstuhl selbst reinigen müsste. Allein bei dem Gedanken drehte sich ihr schon jetzt der Magen. Wenn es nicht besser würde, dann müssten sie jemanden aus dem Dorf bitten, bei der Pflege der alten Frau zu helfen. Aber das würde auch wieder kosten.
Doch dann kam es anders und es ging auch ganz schnell. Von einem zum anderen Tag bekam die alte Frau sehr hohes Fieber, konnte das Bett überhaupt nicht mehr verlassen. Jetzt konnte sie nicht einmal mehr ohne Hilfe aus dem Bett aufstehen und auf den Toilettenstuhl gehen, der direkt neben ihrem Bett aufgestellt worden war. Zurück in ihr Bett musste man sie mehr tragen, als dass sie gegangen wäre, so schwach war sie plötzlich geworden. Der behandelnde Arzt zuckte nach einigen Tagen entschuldigend mit den Schultern und meinte: „ Auch dem ärztlichen Können sind Grenzen gesetzt. Sie ist auch nicht mehr die Jüngste. Es wird wohl nicht mehr lange gehen.“ Schon drei Woche später, die Kartoffelernte hatte gerade begonnen, da legten sie die alte Frau an einem stürmischen Herbsttag auf dem Friedhof hinter der Kirche, neben ihren Mann in die Erde. Von da an blieb das Fenster neben der schweren, hölzernen Haustüre, an der die hellgelbe und blassblaue Farbe abblätterte, die meiste Zeit verschlossen. Nur zum Lüften wurde dieses Fenster noch geöffnet. Für mehr hatten Sohn und Schwiegertochter keine Zeit mehr.
Das Ende des Sägewerks, in dem der junge Bauer, der kurz nach dem Tode seiner Mutter das Vieh abschaffte und die Felder verpachtete, gearbeitet hatte, kam genau so unverhofft. Es war etwas mehr als zweieinhalb Jahre später geschlossen worden. Der Besitzer hatte einen schweren Unfall bei Baumfällarbeiten erlitten. Die Stämme sollten abtransportiert werden und keiner wusste, wie es geschah, dass sie auf dem fast ebenen Gelände ins Rutschen und Rollen kamen. Niemand hatte damit gerechnet. Bevor auch nur einer der Arbeiter reagieren konnte, war der Sägewerksbesitzer zwischen den Stämmen eingeklemmt. Seine Verletzungen waren so schwer, dass er nur wenige Tage überlebte, in denen er Tag und Nacht vor Schmerzen schrie, wenn die Wirkung der Medikamente nach ließ. Da seine Ehe kinderlos geblieben war, gab es auch keinen Nachfolger für das Sägewerk. Seiner Witwe blieb nichts anderes übrig, als das Werk nach einiger Zeit zu schließen, die Arbeiter zu entlassen und das Inventar zu verkaufen. Im Dorf gab es sonst nichts, womit die Männer, die jetzt arbeitslos waren, ihr Geld hätten verdienen können. Was blieb den Arbeitern dann anderes übrig, als sich eine neue Stelle in der nahe gelegenen Stadt zu suchen. Dort gab es kleine Fabriken, zwei Schreinereien und einen Steinbruch. Zwar mussten sie jetzt morgens schon kurz nach sechs Uhr fünf Kilometer über eine holprige Straße mit dem Fahrrad den Berg hinunter zur Arbeitsstelle fahren und abends um achtzehn Uhr den gleichen Weg wieder bergan zurück, was nach einem anstrengenden Arbeitstag ganz sicher kein Zuckerschlecken war. Sie hätten auch den Bus nehmen können, der zweimal am Tag diese Strecke fuhr, aber das hätte wieder Geld gekostet. Wer kein Fahrrad hatte, dem blieb nur noch, den Weg täglich zu Fuß zurück zu legen. Was wollte man sonst machen? Von drei Kühen, einigen wenigen Schweinen oder ein paar Hühnern und den kleinen Parzellen Land, die die Leute besaß, konnte schon damals keiner mehr leben.
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< Mein Gott, wie lange war das schon alles her!> Ging es der alten Frau, als sie in der Abenddämmerung am Fenster stand und auf das gegenüberliegende Haus blickte, durch den Kopf. Ihre Gedanken waren weit zurück gewandert. Nur in ihrer Phantasie konnte sie noch ihr vertrautes Dorf sehen, wie es einmal vor mehr als 60 Jahren war. Die Dorfstraße war damals noch ein ganz holpriger Weg mit gerissener Teerdecke und ausgefahrenen Schlaglöchern, in denen sich bei Regen das Wasser sammelte. Jedes zweite oder dritte Haus hatte einen Misthaufen vor der Tür und wo der Misthaufen am größten war, wohnte der reichste Bauer. Der Mist gehörte in ihrem Dorf einfach dazu und niemandem kam es in den Sinn, sich über die Mistbrühe, die insbesondere bei Regenwetter nicht mehr nur in die Grube sickerte, sondern sich stetig über den Gehweg ausbreitete und den dadurch verursachten, durchdringenden Geruch zu beklagen. An solche Aussagen wie: „ Unser Dorf soll schöner werden „ dachte zu der Zeit noch niemand. Die Leute waren froh, wenn die ganze Familie genug zu essen, in der kalten Jahreszeit eine warme Stube und ein regendichtes, schützendes Dach über dem Kopf sowie die notwendigsten Dinge, die sie für das tägliche Leben brauchten, bezahlen konnten.
Wie sehr sich das ländliche Leben verändert hatte
Als s i e jetzt so in der Abenddämmerung am Fenster stand und in die Vergangenheit blickte, überlegte sie, Sie wusste es nicht, konnte sich in diesem Moment nicht erinnern. Von der Vergangenheit in die Gegenwart umdenken, das fiel ihr seit einiger Zeit immer schwerer. Ihr Leben von vor vielen Jahren war ihr so gegenwärtig, als sei es erst gestern gewesen oder als würde es immer noch andauern. Dagegen waren die Ereignisse der erst kürzlich vergangenen Tage endlos weit weg und sie konnte sich nicht oder nur schemenhaft an Ereignisse der letzten Zeit erinnern.
< So wie früher ganz bestimmt nicht,> sagte sie zu sich selbst. Nach einigen Momenten des Nachdenkens erinnerte sie sich dann doch, dass noch zwei der ehemaligen Höfe bewirtschaftet wurden. Die eine Familie war nach dem Krieg als Flüchtlinge aus Ostpreußen in ihrem Dorf gelandet.
Zuerst arbeiteten der Mann und die Frau in einem Nachbardorf in der Molkerei. Während dieser Zeit schauten sie sich schon nach einem eigenen, kleinen Besitz um und ein Mitarbeiter der Molkerei machte sie auf den kleinen Hof, der etwas außerhalb des Dorfes lag, aufmerksam, den sie dann auch nach längerem Überlegen und Verhandeln recht preiswert erwarben. Der vorherige Besitzer zeigte schon vor dem Krieg nur wenig Interesse an seinem Anwesen und hatte über die Jahre alles herunter gewirtschaftet. Was war er froh, als er diese alte, verfallene Bude, wie er sein Haus nannte, endlich los wurde. Das Dach der Ställe war im Laufe der Zeit undicht geworden, aber dem damaligen Besitzer war es egal, ob seine Tiere im Trockenen standen oder bei Regenwetter in riesigen Wasserlachen. In dem alten Wohnhaus, das sich direkt an die Stallungen anschloss sah es richtig übel aus. Eine windschiefe Eingangstür hing in den Angeln und durch die Ritzen der Fenster, deren Rahmen nur notdürftig zusammengeleimt waren und deshalb nicht richtig schlossen, pfiff im Herbst und Winter der Wind. Dort, wo die Glasscheiben zerbrochen waren, hatte der frühere Besitzer die Fenster notdürftig mit Pappe ausgebessert, da ihm für neue Scheiben das notwendige Geld fehlte. Hinten, in der guten Stube, hing zwischen den beiden undichten Fenstern die Tapete in Fetzen herab, weil diese feucht geworden war. Da diese Stube schon lange nicht mehr geheizt wurde, roch alles recht modrig. Die Küche sah aus, als sei sie irgendwann, vor langer Zeit einmal notdürftig geweißt worden. Aber den Spinnennetzen, die sich an der Decke entlang zogen und dem vielen Staub, der sich darin gesammelt hatte nach zu urteilen, musste dies schon längere Zeit her sein. Nicht mal eine Toilette gab es in dem alten Bauernhaus, von einem Badezimmer erst gar nicht zu reden. Am hintersten Ende des Hofes gab es ein wackliges Holzhäuschen mit einem Plumpsklo, der natürlich fürchterlich stank und in dem sich niemand aufhalten wollte. Insbesondere an kalten Wintertagen war die Benutzung eine Tortur, bei der man das Gefühl hatte, sich den Hintern abzufrieren.
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