„Also, was? Hast du? Den Vertrag, meine ich.“
„Ja“, sagte Rena leise und klopfte auf ihre Handtasche, als müsste sie sich versichern, dass die zwölf Blatt Papier wirklich darin steckten. Meikes Gesicht zeigte den gleichen erstaunten, aber zufriedenen Ausdruck wie das der Kundenberaterin, als sie ihr vorhin zugesagt hatte.
Wiebke Peterseck, so hieß die Dame, wie sich beim Unterzeichnen herausstellte, war bereits dabei gewesen, ihre Unterlagen zusammenzuraffen, als Rena aus dem Waschraum zurückgekehrt war. Sie wirkte abweisend und längst nicht mehr so zugewandt wie zu Beginn des Gesprächs. Augenscheinlich hielt sie Rena nicht für eine potentielle Kundin.
„Also, ich mach’s“, hatte Rena zaghaft gesagt und der Peterseck waren die Papiere vor Überraschung aus der Hand gefallen. Schnell hatte sie alles wieder in den Griff bekommen und ihre neue Klientin geflissentlicher als zuvor umflattert. Zehn Minuten und ein Personenprofil später verließ Rena den Präsentationsraum mit dem unterschriebenen Vertrag in der Tasche und ohne die leiseste Ahnung, auf was sie sich da eingelassen hatte. Das letzte Statement, das die Kundenberaterin ihr noch mit auf den Weg gegeben hatte, kreiselte in ihrem Kopf.
„In letzter Zeit ist es einige Male zu Missverständnissen gekommen“, hatte die Frau behauptet. „Deshalb möchte ich hier noch einmal ganz deutlich machen: LEA, die Love Event Agency, ist – wie der Name schon sagt – eine Eventagentur, keine Partnervermittlung und auch kein Begleitservice. Unser Business ist die Unterhaltung. Es geht nicht um sexuelle Befriedigung, sondern um ein emotionales Erlebnis. Denken Sie an das Hochgefühl beim Skifahren, oder an einen Bungee-Sprung.“ Rena hatte weder das eine noch das andere jemals ausprobiert.
„Das ist ja wunderbar“, rief Meike und riss Rena damit aus ihren Gedanken. Die Schwester umarmte sie stürmisch. „Ich bin so froh, dass du mein Geschenk annimmst. Happy Birthday, Große.“
„Ich hab erst in fünf Wochen Geburtstag. Mach mich nicht älter, als ich schon bin. Die verdammte Drei-Null kommt noch früh genug.“
„Man ist immer nur so alt, wie man sich fühlt, Schwesterherz. Außerdem gab es diesen Monat ein Neukunden-Sonderangebot. Das konnte ich mir gerade noch leisten.“ Meike lachte und drückte Rena fester an sich. „Ich freu mich so für dich. Endlich kommt ein wenig Leben in dein trostloses Dasein.“
„Danke auch.“ Rena befreite sich aus der überschwänglichen Umarmung. „Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, müsste ich jetzt wirklich beleidigt sein.“
Zuhause auf dem Sofa überkamen Rena Zweifel. Kaufreue, so hatte Frau Peterseck es genannt. Innerhalb von drei Tagen konnte sie gebührenfrei den Vertrag rückabwickeln.
Sie schaltete den Fernseher ein. Eine Daily Soap plätscherte vor sich hin, zeigte glückliche Pärchen und verliebte Teenager. Gefolgt von betrogenen Ehefrauen, Trennungen und viel Herzschmerz. Drama, Drama, Drama. Emotionale Erlebnisse? Was eigentlich war daran so erstrebenswert? Das brachte doch nur alles aus dem Lot. Bestes Beispiel war ihr eigener desaströser Misserfolg auf diesem Gebiet. Aber seit fünf Jahren war sie recht gut ohne all die Aufregung zurecht gekommen, oder?
Schnell schaltete sie die Episodenromanze aus und zog den Vertrag aus der Tasche.
Vor der Unterschrift hatte sie den Text nur überflogen. Die Aufregung hatte ihre Sinne getrübt. Die Zeilen waren vor ihren Augen verschwommen und ihre feuchten Finger hatten gezittert, als Frau Peterseck ihr den stylischen, weißen Kugelschreiber zur Unterschrift überreicht hatte. Diesen Stift mit dem aufgedrucktem Firmenlogo und der Notfalltelefonnummer hatte sie als kleines Willkommenspräsent behalten dürfen.
Vier Wochen lang war sie nun vertraglich an LEA gebunden. Das stand dort in der Kopfzeile, Schwarz auf Weiß in Druckschrift gleich neben ihrem Namen. Verena Pütz, ein Monat, Basis-Paket, Neukunde – von der Kundenberaterin akkurat auf den gepunkteten Linien eingetragen.
Rena griff nach der Tasse Earl Grey, die vor ihr auf dem Couchtisch abkühlte, und trank einen großen Schluck. Der fair gehandelte, rein-biologisch angebaute Tee war fein mit Bergamotte abgeschmeckt und ihr erklärter Lieblingstee. Rena war süchtig danach. Er beruhigte sie. Besonders dann, wenn sie eine Panikattacke im Anzug fühlte.
Sie breitete den Vertrag vor sich auf dem Tischchen aus und las die Klauseln quer, diesmal mit mehr Aufmerksamkeit.
Bei Punkt Fünf, Leistungen, blieb ihr Blick an einem Absatz hängen:
„Die Agenten verhalten sich in allen Belangen und zu jedem Zeitpunkt vollkommen professionell. Sie sind angehalten, ungeachtet von Aussehen, Alter, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, sexueller Ausrichtung, etc. des Klienten ihren Aufgaben nachzukommen. Die Agenten geben sich oder ihre Arbeit für LEA zu keinem Zeitpunkt zu erkennen. Nach Ablauf der Vertragszeit verschwinden sie diskret und spurlos.“ Und ein paar Zeilen weiter unten: „Nebenvereinbarungen jeder Art zwischen Agent und Klient sind untersagt. Zuwiderhandlung wird auf Seiten des Agenten mit sofortiger Entlassung, auf Seiten des Klienten mit Schadenersatzansprüchen für den Ausfall des Agenten geahndet.“
Rena trank die Tasse leer. Das klang alles sehr – unemotional. In dem Präsentationsvideo hatte sich das noch anders angehört. Da sprach man von langvermisstem Kribbeln im Bauch und einem emotionalen Feuerwerk, das verschüttete Gefühle reaktivierte.
Das Handy klingelte. Meikes Name leuchtete auf dem Display. Rena nahm ab.
„Na, wie läuft es mit LEA, schon etwas passiert?“
„Die Tinte auf dem Vertrag ist noch nicht trocken, Meike. Ich glaube, das war die größte Schnapsidee, zu der ich mich von dir jemals habe überreden lassen. Du und deine blöden Einfälle. Ich hab ein ganz und gar ungutes Gefühl dabei.“
„Ach, Papperlapapp. Du musst dich auch einmal etwas trauen. Komm mal raus aus deinem Schneckenhaus. Du wirst sehen, es wird dir gut tun.“
„Mir geht es doch gar nicht schlecht. Ich weiß nicht, was du hast. Nicht jeder möchte ein so chaotisches Leben führen wie du, Ems. Manche Leute genießen ihre Ruhe.“
„Reni, du wirst Dreißig, nicht Fünfundachzig. Wirf die Puschen weg und hol die Stöckel aus dem Schrank. Oder müssen wir erst shoppen gehen? Hey, das ist ein Date. Morgen ist Samstag, da gehen wir in die Stadt.“ Rena hörte in Meikes Stimme, was ihr am nächsten Tag blühen würde, falls sie irrationalerweise zusagen sollte. Ihre Schwester würde sie durch jeden verdammten Laden schleifen, der irgendetwas aus Stoff oder Leder zu bieten hatte. Schnell sagte sie: „Lass mal gut sein. Ich hab alles, was ich brauche“, und legte auf.
Unter Punkt Acht, Pflichten des Klienten, fand sie einen weiteren Passus, der sie an ihrem Urteilsvermögen zweifeln ließ. Wie hatte sie das übersehen können?
„Zu den Pflichten des Klienten zählt in erster Linie Kontakt mit der Außenwelt. Mögliche Begegnungsorte (eine Auswahl): Arbeitsplatz, Sportstätten, Kulturstätten, Gastronomie, Einzelhandel, Aktivitäten im Freien.“ Nichts davon machte sie freiwillig und gern. Sie hasste es, sich in Menschenmengen jedweder Art aufzuhalten.
Aber klar, an meinem heimischen Sofa werden selten unbekannte Passanten vorbeistreifen, dachte Rena und schüttelte den Kopf über sich selbst, als sie weiter las:
„Es wird dem Klienten nahe gelegt, mit der Agentur einen Online-Terminkalender zu teilen (Informationen und Links auf unserer Website). Sollte innerhalb der ersten drei Tage kein Kontakt zustande gekommen sein, wird die Agentur Maßnahmen einleiten. Die Haftung für entstandene Schäden liegt allein beim Klienten.“
Was sollte das bitte heißen? Welche Maßnahmen? Schäden, Haftung? Das ging eindeutig zu weit.
„Sollte nach 10 Tagen kein Kontakt hergestellt werden können, bittet die Agentur zum Gespräch und gegebenenfalls zur sofortigen Annullierung des Vertrags zu vollen Lasten des Klienten.“ Und dann noch der Nachsatz: „Der Klient ist angehalten, seinen Pflichten nachzukommen. Anderseits kann die Agentur kein erfolgreich vermitteltes Gefühlserlebnis garantieren.“
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