(Beim Frühstück I)
Um sieben Uhr klingelt das Telefon. Lars kommt nur mühsam zu sich. Gott sei Dank alles nur geträumt. „Antje, Telefon! Bestimmt für dich.“ Lars dreht sich herum und fällt prompt aus dem Bett, da er zu Hause in seinem Bett auf Sylt auf der anderen Seite zu schlafen pflegt. Nix geträumt, Lars! Er krabbelt auf allen Vieren zum Telefon. „Ja, bitte?“.
„Griaß Di Gott, Lars! Da is da Sepp. Es is scho Sieme, sieben Uhr, wollt i song.“ Wie konnte der Kerl nach drei Maß Bier gestern Abend so früh wieder fit sein. „I hob noch dei Koffer un bring‘s da glei vorbei. In fünf Minutn bin i do“ sagt Sepp und legt auf, ohne auf eine Antwort zu warten.
Lars schafft es, auf die Beine zu kommen. Angezogen ist er schon, oder besser gesagt, noch. Ein Königreich für eine Zahnbürste! Die Sonne kommt gerade raus und scheint zum Ostfenster herein. Sie blendet Lars, so dass er lieber zur südlichen Terrassentür geht. Noch bevor er sie öffnet, eröffnet sich ihm ein atemberaubender Blick auf die nahen Berge. Er schiebt die Tür auf und betritt bedächtig die Terrasse. Es liegt Frühlingsgeruch in der Luft, frisch und kühl, aber nicht mehr so schneidend kalt, wie gestern Nacht. Einige Frühblüher im Garten tauchen diesen in ein angenehm gelb-grünes Licht. Dahinter Berge, die Lars‘ Blicke nach oben ziehen. Der Himmel weiß-blau 36. Die Situation ist schon fast kitschig, erinnert sie doch an Ansichtskarten, die viele bayerische Gäste gerne an ihre Lieblingskneipe auf Sylt geschickt haben, und die dort nun an den Wänden kleben. Gestern Morgen stand Lars noch auf seiner Terrasse, die See und den Wind von vorn und die Sonne im Rücken. Jetzt steht er eintausend Kilometer weiter südlich, wieder auf einer Terrasse, die Berge vor sich, ein lauer Wind, der gerade die Alpen von Italien kommend überquert hat und die Sicht klar und rein macht, so dass man die Baumwipfel auf den Bergen erkennen kann, als wären sie aufgemalt. Die warme Sonne spürt Lars auf seiner linken Wange. „Wow!“ Mehr kann Lars nicht sagen.
Er sieht Sepps Unimogtraktorfahrzeug herannahen und geht ums Haus, um ihn zu begrüßen. „Guten Morgen, mein teurer Lebensretter!“ Lars reicht Sepp die Hand, obwohl er sich noch nicht so recht gesellschaftsfähig fühlt. Unrasiert, ungewaschen, noch immer in den Klamotten von gestern.
„Servus Lars! Griaß di! I bring da dei Koffer ins Haus un kumm in zwoa Stundn wieder, um di abzuhoin. Schaugst, dass fertig wirst, das di d‘Vreni um Ochte abhoin ko. Es giabt bstimmt was Guads zum Friastick.“ Sepp lupft gleich beide Koffer gleichzeitig über die Terrasse ins Haus und stellt sie im geräumigen Flur ab.
„Danke, Sepp. Was täte ich ohne dich?“ Lars wirkt wie ein ziemlich kleiner und hilfloser Junge.
„Ach, sei stad 37. Des passt scho.“ Sepp wirkt ob seiner Erscheinung nicht so, ist aber ein kreuzbraver und bescheidener Kerl. Er verlässt das Haus durch die Haustür und rennt zum Auto. „I muss no Semmen hoin, mei Oide wart scho miam Friastick. Pfiät Di! 38”
Lars hätte gerne seine erste Lektion des Tages abgeschlossen, rätselt aber noch, was es bedeutet, ‚Staat zu sein‘ und was man mit ‚Semmen‘ macht. „Lars, Du musst noch ganz viel lernen“ sagt er sich laut vor, als er ins Haus zurückgeht, um sich für sein nächstes Abenteuer fertig zu machen. In einer Dreiviertelstunde wird Vreni kommen. Schnell noch Antje wecken und berichten, bevor es nachher im Eifer des Gefechts wieder vergessen geht.
„Hallo Lars, wie geht es dir? Lebst Du noch? Was haben Sie mit dir gemacht? Konntest Du schlafen? Was machst Du gerade? Los, rede doch endlich, und lass mich hier nicht vor Neugierde sterben!“ Lars hört Antje tief einatmen, nachdem er schon befürchtet hat, sie könne ersticken, weil sie vergisst Luft zu holen.
„Antje, guten Morgen. Ja, ich lebe noch, obwohl …“ er macht einen Moment zu lange Pause und Antje fällt ihm dazwischen.
„Obwohl was? Los, sprich, was ist passiert?“ Antje klingt tatsächlich aufgeregt und tief besorgt.
„Nur eine kleine Prügelei. Nichts Schlimmes, meine Nase hat nicht viel abgekriegt.“ Lars findet Gefallen an Antjes Besorgtheit.
„Was? Noch kein Tag bei diesen Barbaren, und schon haben Sie dich halb tot geschlagen? Oh Lars, mach dass Du da wegkommst. Ich hab’s dir gesagt, das sind Wilde, die sind gefährlich.“
„Ja, das ist schon richtig, aber ich schaffe das schon, mein Schatz.“ Lars weiß, dass das seine Antje nicht beruhigen, sondern eher das Gegenteil bewirken wird. Aber lass sie sich ruhig mal ein bisschen Sorgen machen, denkt er sich mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht.
„Was ist noch alles passiert? Los erzähl, ich will es wissen. Ich rufe die Polizei an und lass dich da rausholen. Oder stecken die mit den Wilden unter einer Decke? Bestimmt, das sind doch alle Spinner.“ Antje steigert sich ebenso in ihre Sorge, wie Lars in die Rolle des bemitleidenswerten Opfers.
„Nun, so schlimm war es nicht. Sie zwingen einen, sich vollzufressen und dabei literweise Bier in sich hinein zu trichtern. Sie schimpfen in einem fort, aber man versteht ja sowieso kein Wort. Also, was soll’s?“ Lars stellt sich Antjes entsetztes Gesicht vor und ertappt sich zunehmend dabei, wie es ihn amüsiert.
„Lars, nein, bitte pass auf dich auf! Was machst Du heute? Gewöhne dich bitte vorsichtig an diese Höhlenbewohner. Die sind bestimmt bewaffnet.“ Antje beruhigt sich nur langsam, aber Lars legt noch ein wenig drauf.
„Nun, heute ist es hier wohl Tradition, dass sie Bäume ausreißen, sie anmalen und wieder in die Erde stecken. Da sind vom Bürgermeister über die Kirchenleute bis zu den bewaffneten Einheiten alle dabei. Und ich muss auch dahin, sagt der Sepp, damit ich die wichtigen Leute kennen lerne.“ Lars überlegt kurz, was er Antje ansonsten noch zu berichten hätte. „Ach ja, und die Berge sind gar nicht so hoch wie auf den Ansichtskarten. Eigentlich gefällt es mir hier gar nicht, und schütten tut’s wie aus Eimern.“ So, das müsste an schlechten Nachrichten jetzt eigentlich reichen, um Antje für heute in eine kreative Unruhe zu versetzen. „Ich muss mich jetzt fertig machen, Antje. Vreni kommt gleich, um mich abzuholen.“
„Vreni?“ setzt Antje misstrauisch nach. „Noch kein Tag da und schon eine Vreni?“
„Vreni ist die Frau vom Schorsch, der ein Spezi, äh, ein Freund vom Sepp ist. Es sind meine Nachbarn, die mich heute mit einem Frühstück versorgen sollen.“ Das war so auffällig harmlos, dass Antje das bestimmt nicht glauben wird, ist sich Lars gewiss und grinst.
„So so, na dann pass mal schön auf, dass dir nichts passiert. Und ruf heute Abend mal an, damit ich weiß, wie es dir geht. Ja?“ Na so was. Sonst legte Antje keinerlei Wert darauf, dass Lars sich von unterwegs meldet. Sie pflegt ihn üblicherweise mit den Worten „wenn ich nichts höre, weiß ich, dass es dir gutgeht“ abzuwimmeln. Kein Wunder, sie wollte sich ja in Lars‘ Abwesenheit normalerweise ungestört mit Hans & Co. beschäftigen. Da stören Kontrollanrufe nur. „Also, Du meldest dich heute Abend, versprochen?“
„Versprochen. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe ja einen persönlichen Bodyguard. Der kämpft mit fünf Angreifern gleichzeitig.“ Lars kann sich ein Losprusten kaum verkneifen und lässt Antje bis heute Abend einfach mal zappeln. Das tut ihr mal ganz gut, denkt er sich dabei.
Jetzt schnell geduscht und umgezogen! Den Bart lässt er heute unrasiert. Wozu auch rasieren, bei diesen unzivilisierten Leuten? Danach reicht es noch für einen kleinen Rundgang durchs Haus. Es jodelt etwas zu sehr, findet Lars. Viel Holz an den Decken und Wänden, reichlich verziert, verströmt einen ganz eigenen Duft im Haus. Es scheint noch nicht lange her zu sein, dass alles neu gemacht wurde. In jedem Zimmer hängt ein Kruzifix an der Wand. Lars fühlt sich von dieser gekreuzigten Kreatur regelrecht beobachtet und nimmt sich vor, die Dinger gleich morgen abzuhängen. Um das Haus herum ist reichlich Platz, und der Garten ist gepflegt, als hätte Holzerding den ersten Preis bei ‚Unser-Dorf-soll-schöner-werden’ gewonnen. Durch das Fenster sieht Lars eine rundliche Frau im Dirndl auf das Haus zukommen. „Das muss also Vreni sein“ sagt Lars in gespannter Erwartung auf sein erstes bairisches Frühstück. Er öffnet, bevor Vreni klingeln kann und tritt vor die Tür, ihr entgegen.
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