LUNATA
Der Redner
Der Redner
Kriminalgeschichten
© 1928 by Edgar Wallace
Originaltitel The Orator
Aus dem Englischen von Ravi Ravendro
© Lunata Berlin 2020
Der Redner
Die Gedankenleser
Die zwei ungleichen Brüder
Mord in Sunningdale
Die Privatsekretärin
Der geheimnisvolle Nachbar
Im Banne des Sirius
Geschmuggelte Smaragde
Der Fall Freddie Vane
Der Verbrecher aus Memphis, USA
Die Lektion
Arsen
Allgemein nannte man Chefinspektor Oliver Rater durch Zusammenziehung seines Vor- und Familiennamens »Orator«. Das heißt auf deutsch »Redner«. Die Entstehung des Spitznamens ist ohne weiteres klar, aber weniger bekannt ist die Tatsache, daß der Chefinspektor eigentlich sehr wenig sprach und daß diese Bezeichnung daher eine ironische Bedeutung hatte. Aber sowohl seine Vorgesetzten als auch andere Leute wußten sehr gut, daß er dafür um so mehr dachte.
Er war hochgewachsen und breitschultrig und hatte regelmäßige, klare Züge, aber sein Gesicht blieb meist unbewegt. Wenn sich jemand mit ihm unterhielt, hatte er zweifellos zunächst den Eindruck, daß der Chefinspektor ihm nicht glaubte. Außerdem kam ihm am Ende des Gesprächs zum Bewusstsein, daß Mr. Rater kaum zehn Worte gesagt hatte. Mancher Verbrecher hatte ein so vollständiges Alibi, daß es lächerlich schien, ihn in Gewahrsam zu halten. Wenn er aber dem Redner vorgeführt wurde, brachte ihn oft genug das tödliche Schweigen dieses Mannes zur Verzweiflung, und er bekannte schließlich doch die Wahrheit.
Als Mr. Rater an einem Februarnachmittag in der Ecke eines großen Saales stand, in dem eine Hochzeitsfeier abgehalten wurde, hüllte er sich wieder wie gewöhnlich in tiefes Schweigen. Auf großen Tischen waren die Geschenke aufgebaut, die von den Gästen bewundert wurden.
Im allgemeinen lädt man einen Chefinspektor der Geheimpolizei nicht ein, um Hochzeitsgeschenke zu bewachen. Der Redner hatte sich aber freiwillig zu dieser Aufgabe angeboten, obwohl er selbst zu den Gästen gehörte. Der verstorbene Vater der Braut war eng mit ihm befreundet gewesen. Angela Marken erinnerte sich daran, als sie die Liste der einzuladenden Personen aufstellte.
»Aber Liebling«, sagte ihre Mutter ärgerlich, »du kannst doch unmöglich einen Polizeibeamten zu der Gesellschaft bitten. Das halte ich einfach für lächerlich.«
Angela seufzte und lehnte sich in ihren Stuhl zurück.
»Ach, das ist doch nicht so schlimm«, erwiderte sie ein wenig gelangweilt. »Er bekleidet immerhin ein hohes öffentliches Amt.« Nach einem kleinen Zögern fragte sie: »Wie wäre es, wenn ich Donald Grey zur Feier bitten würde?«
Mrs. Marken zog die Augenbrauen hoch und sah ihre Tochter verwundert an.
»Das geht unter keinen Umständen, Angela. Ich verstehe wirklich nicht, wie du auf solche Einfälle kommst. Donald ist ja ein ganz netter junger Mann, und ich schätze ihn persönlich außerordentlich, aber du kannst doch nicht seinetwegen an deinem Hochzeitstage sentimental werden. Ich bitte dich, er verdient im Jahr dreihundert Pfund!«
»Schön, dann werde ich es nicht tun«, entgegnete Angela ruhig und adressierte den Briefumschlag an den Chefinspektor. »Vielleicht beaufsichtigt Mr. Rater die Wertsachen für uns. Das wäre sehr nett von ihm – und wir könnten dann schließlich auch ein paar Pfund sparen«, fügte sie ein wenig bitter hinzu.
Warum sie in so trüber Stimmung war, wüßten nur wenige Gäste. Lord Eustace Lightley war reich und erbte wahrscheinlich in absehbarer Zeit einen Herzogstitel. Er hatte auch ein hübsches Gesicht und stand außerdem in dem Ruf, poetisch veranlagt zu sein. Vom Standpunkt der großen Menge aus war er jedenfalls eine glänzende Partie für die Tochter eines mittellosen Feldmarschalls.
Angela sah an ihrem Hochzeitstage sehr schön aus, obwohl ihr Gesicht kaum Farbe hatte. Sie trat vollkommen sicher und selbstbewußt auf, und als sie in ihrem Brautkleid im Saal erschien, gefiel sie dem Redner ausnehmend gut.
Später traf er auch den Bräutigam, aber dieser große, schlanke Herr mit den etwas hageren Zügen und dem langen Schädel war ihm aus irgendeinem Grunde sofort unsympathisch. Er hatte eine Gesichtsfarbe wie Milch und Blut, die einem jungen Mädchen besser gestanden hätte als einem Mann von fünfunddreißig Jahren. Hätte der liebe Gott Mr. Rater die Aufgabe gestellt, Menschen zu formen, so wäre dieser Lord Eustace Lightley sicher nicht geschaffen worden!
Der Lord schien nervös und gereizt zu sein und zeigte sich wenig liebenswürdig. Die erste und einzige Unterhaltung zwischen ihm und dem Redner verlief deshalb auch nicht besonders befriedigend.
»Ach so, Sie sind ein Detektiv?« fragte Sir Eustace von oben herab.
Der Redner nickte, was für ihn schon gleichbedeutend mit einer langen Antwort war.
»Aber warum stehen Sie denn in der Ecke? Von hier aus können Sie doch gar nichts sehen! Es wäre viel besser, wenn Sie auf das Podium gingen.« Er zeigte auf die große Musiknische, von der aus man den ganzen Saal überschauen konnte.
Mr. Rater legte die Stirn in Falten.
»Hier sind Sie tatsächlich vollkommen nutzlos«, fuhr der Lord fort. »Ebensogut könnten Sie auf dem Grosvenor Square stehen.«
»Ich werde auch sofort hinausgehen«, erwiderte der Chefinspektor und verließ das Fest, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Das war die erste und einzige Begegnung, die er mit Lord Eustace Ligthley hatte.
Als er aus der Haustür trat, wandte sich ein gutgekleideter junger Mann an ihn, der ein kleines Paket trug, und erkundigte sich, wie er wohl am besten den Lord allein sprechen könnte. Offenbar kannte er Mr. Rater dem Aussehen nach; das Bild des Chefinspektors erschien ja auch häufig genug in den Zeitungen.
»Es ist merkwürdig, was für romantische Geschichten im Leben passieren, Mr. Rater. Dinge, die man kaum für möglich hält. Schon über hundert Jahre hat die Familie des Lords nur in unserer Apotheke gekauft. Wir liefern ihm alles, was er an Medizinen und Drogen braucht. Und als er in Syrien lungenkrank wurde – das ist allerdings schon einige Jahre her –, haben wir ihm alles dorthin nachgeschickt. Jetzt ist er wieder ausgeheilt. Er machte damals zu seiner Kräftigung eine Arsenkur, und wir schickten ihm jede Woche ...«
Mr. Rater hörte interessiert zu, was der junge Mann zu berichten wußte.
Ein Vierteljahr später brachte Mr. Rater seinen Sommerurlaub in Ostende zu. Da er Junggeselle war, konnte er für eine Erholungsreise ziemlich viel Geld ausgeben. Für Ostende entschied er sich, weil er dort bestimmt viele Landsleute treffen würde, die ihn am wenigsten in dem belgischen Seebad vermuteten und über seine Anwesenheit nicht gerade sehr erfreut sein würden.
Wenn er auf Urlaub war, las er gewöhnlich keine Zeitung. Aber nachdem er im Hippodrom eine kurze Unterhaltung gehört hatte, ließ er sich sofort die neuesten Londoner Blätter geben und fand auch kurz darauf, was er suchte. Es war nur eine kleine Notiz.
Zu unserem größten Bedauern müssen wir den Tod von Lord Eustace Lightley melden. Seit einigen Wochen lag er krank darnieder und starb in der vorigen Nacht plötzlich in seiner Stadtwohnung in der Hart Street, Mayfair.
»So, so!« murmelte der Redner nachdenklich vor sich hin.
Wenn er seiner eigenen Neigung hätte folgen dürfen, hätte er der Witwe ein Glückwunschtelegramm geschickt. Die Todesanzeige erinnerte ihn wieder an die Unterredung, die er damals mit dem jungen Mann aus der Apotheke hatte, und er machte sich eine Notiz in sein Tagebuch, um später darauf zurückzukommen. Da ihn aber in den nächsten Tagen eingehende Konferenzen mit den Ostender Polizeibehörden vollauf in Anspruch nahmen, vergaß er die Angelegenheit. Es waren nämlich mehrere Juwelendiebstähle in den großen Hotels begangen worden, während die Gäste beim Diner saßen oder sich im Kasino aufhielten.
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