Gleichzeitig schlug Chotor eine Erscheinung in Bann, die sich ihm für immer einprägen sollte. Die Wasseroberfläche des Göttersees glättete sich. Im Wasser wurden plötzlich Konturen sichtbar. Mächtige Mauern mit Zinnen, gewaltige Türme und ein goldenes Tor bildeten ein harmonisches Ganzes, das die Schwärze des Sees verdrängte und in gleißendem Licht erstrahlte. Chotor kam es so vor, als ob er in dieses Bild eintauchte. Er begab sich auf eine virtuelle Reise ins Innere der Burg. Prunk und Glanz in riesigen Sälen, edle Gemächer, festliche Gelage und tanzende Nymphen verzückten Chotor. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfüllte den Gott. Und der Wunsch, dies alles zu besitzen. Nicht nur diese Götterburg, sondern als oberster Burgherr auch die Macht über alle anderen Götter!
Mit diesen Bildern im Kopf erlangte er allmählich wieder sein volles Bewusstsein. Es war, als ob er durch einen langen Tunnel vom gleißenden Licht zurück ins Dunkel marschieren müsste. Die Wirkung der Kristalle ließ langsam nach. Und er wünschte sich, er wäre niemals aus diesem Rauschzustand erwacht. Nun fand er sich in seiner Felsenwohnung auf dem Hochplateau wieder. Sein Schlafsaal, obwohl von beeindruckenden Ausmaßen, kam ihm plötzlich schmucklos und bescheiden vor. Und überhaupt, waren die Wohnungen der Götter hier zwischen den Felsen des Hochplateaus überhaupt angemessen? Die Schöpfer und Lenker der Welt hausten in Felsenwohnungen, die von außen alles andere als eindrucksvoll waren.
Chotor richtete sich langsam auf, strich seine lange weiße Mähne nach hinten und atmete tief durch. Der Gott besaß eine beeindruckend kräftige Gestalt. Seine Physiognomie drückte in früheren Zeiten feste Entschlossenheit und eisernen Willen aus, auch eine gewisse Aggressivität gepaart mit Verschlagenheit. Als Folge seines Drogenkonsums waren diese Charakterzüge nicht mehr so offenkundig erkennbar. Dennoch stellte Chotor immer noch eine charismatische Erscheinung dar.
Die Übelkeit, die ihn früher beim Erwachen überkam, war durch die Gewöhnung an den regelmäßigen Drogenkonsum verschwunden. Es lag nahe, nach neuen Kristallen zu verlangen, um die schöne Illusion aufrecht zu erhalten. Aber er widerstand mit allen mentalen Kräften, die er noch besaß. Neue Halluzinationen, die vielleicht von völlig anderer Art gewesen wären, hätten diese schöne Imagination zerstört. Chotor wollte diese verlockenden Bilder in seinem Bewusstsein erhalten. Und nicht nur diese. Macht, Ruhm und Ehre, die Vorstellung, der Erste unter den Göttern zu sein, wie ihm die geheimnisvolle Stimme suggerierte, dies alles bildete die Begleitmusik, die nicht von den Bildern zu trennen war und Chotor verzückte. Welch süße Sphärenklänge! Die Welt, die ganze Welt! Nur für ihn!
„Baue die Burg! Baue die Burg“, hämmerte es immer wieder in seinem Bewusstsein. Die Göttin der Tiefe – nur ein Traum oder Wirklichkeit? Wenn es nur ein Traum war, so war es doch ein Wink des Schicksals. Eine Götterburg! Mächtigster unter den Göttern. Sie alle werden ihm zu Füßen liegen! Es lohnte sich diesen Gedanken weiterzuverfolgen.
Nala, die schöne Götterfrau, die eingerollt neben ihm lag, sollte noch nichts von seinem Traum erfahren. Sie befand sich selbst noch in tiefem Schlaf. Ihr Gesichtsausdruck schien etwas ängstlich, zumindest besorgt zu sein. Wer weiß, in welchen Traumsphären sie sich gerade befand. Wohl in keinen besonders positiven. Chotor ließ sich dadurch nicht seine gehobene Stimmung verderben. Bald würde er ihr zeigen können, welchen außergewöhnlichen Göttergatten sie besaß. Sie würde seine Einzigartigkeit be-wundern. Chotor brauchte diese Art der Bestätigung genauso wie die Rauschkristalle.
Transformation! Transformation, schrie es in seinem Innern. Eine neue Weltordnung! Ein neues Machtgefüge! Und er, Chotor, sollte die tragende Rolle spielen.
Die imaginäre Götterburg musste in der realen Welt Gestalt annehmen. Doch wie? Darüber hatte die Göttin der Tiefe kein Wort verloren. Die Götter besaßen hochentwickelte Waffen und Geräte. Sie kannten nur deren technische Grundlagen nicht mehr. Sie wussten aus jahrtausendelanger Erfahrung, wie man Waffen und alle Maschinen, die das tägliche Leben erleichterten, bediente. Alles funktionierte. Aber wie und warum? Dieses Wissen war schon längst verloren. Nur die Vorstellung darüber, dass Bagh nicht nur Licht und Wärme spendete, sondern auch alle benötigte Energie lieferte, war latent vorhanden.
Man war unsterblich. Der Tod war längst überwunden und damit auch der Kreislauf von Geburt und Tod. Die Götter waren zwar nicht asexuell, aber es gab keinen Nachwuchs mehr, kein frisches Götterblut, keine neuen Ideen, keine Entwicklung. Ewiges Leben bedeutete nicht nur Stillstand, sondern auch Rückschritt und Verlust. Wie sollte Chotor dann etwas aufbauen? Eine Götterburg von unbeschreiblicher Größe und Dominanz? Er musste sich fremde Hilfe zunutze machen.
Zunächst tat er gut daran, seine Gedanken für sich zu behalten, auch wenn die Versuchung groß war, mit dieser Idee im Kreise der Götter aufzutrumpfen. Erst wenn seine Pläne Gestalt annahmen, konnte er daran gehen, die nötigen Schritte einzuleiten. Und dann kam der schwierigste Teil des Vorhabens. Chotor musste alle anderen 36 Götter und Göttinnen ins Vertrauen ziehen. Nicht nur das. Bis zur letzten Gottheit mussten alle von dem Projekt überzeugt werden, ohne das Gefühl zu bekommen, dass Chotor sich über sie erheben wollte. Denn ansonsten würden die alten Zeiten wieder anbrechen, und zwar schlimmer als jemals zuvor.
Der Überfall kam aus völlig heiterem Himmel. Die Subterronen hatten eine äußerst produktive Phase abgeschlossen. Die Mineralien mussten aus den Tiefen ihres Höhlen- und Stollensystems gefördert werden. Dazu waren allerlei archaische Werkzeuge notwendig, denn der Einsatz ihrer Ministrahler hätte für den kostbaren Rohstoff gefährlich werden können. Aber der große Vorteil der Subterronen war ihre geringe Körpergröße. Der Durchmesser der von den Mineralien durchsetzten Adern war kaum größer. So hatten sie optimale Arbeitsbedingungen für eine maximale Ausbeute.
In den Labors wurden die an sich bereits beruhigenden Mineralien mit weiteren psychotropen Substanzen zu den Kristallen ‚veredelt‘. Dabei galt es, den Wirkungsgrad auf einem konstanten Niveau zu halten. Die halluzinogene Wirkung musste innerhalb weniger Sekunden eintreten, durfte allerdings nicht zu einem ‚Horrortrip‘ führen. Die Götter mussten in eine entspannte und angenehme Stimmungslage versetzt werden. Der gesamte Herstellungsprozess bedurfte höchster Sorgfalt und Genauigkeit. Das Wissen darüber wurde dokumentiert und von der ersten Führungsebene gezielt weitergegeben.
Gor gab gerade seine letzten Anweisungen für die Lagerung einer Charge, als sich sein Fell zu sträuben begann und die negativen Energien spürbar wurden. Sie manifestierten sich sehr schnell in physikalischen Phänomenen. Ein gasförmiger Stoff strömte durch die Gänge und Stollen und breitete sich auch in den Labors aus. Man konnte ihn kaum riechen und nur als leichten Nebel wahrnehmen. Und doch! Das war bestimmt ein Angriff von außerhalb! Was bei Bagh sollte das?
Gor wahrte Ruhe und erteilte sofort die nötigen Befehle.
„Bol! Log! Aktiviert die Notbelüftungssysteme!“
„Verstanden. Notbelüftungssysteme aktivieren.“
Die Reaktion seiner Artgenossen erfolgte schnell, aber bis die Systeme auf Hochtouren arbeiteten, konnte es zu spät sein. Die Subterronen reagierten nicht panisch. Sie waren besonnen und ließen sich mehr vom Verstand als von Gefühlen leiten. Eine Flucht nach draußen war nicht ratsam, denn dann wäre man dem unbekannten Angreifer in die Hände gelaufen.
„Log! Sieh zu, dass du an die Waffen kommst! Verteile so viele Strahler an die Genossen, wie es nur geht!“ Gor wusste nur zu genau, dass das nicht die Rettung bringen konnte und obendrein die Kristalle gefährden würde. Er nahm dennoch hastig seinen Ministrahler in Empfang.
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