Der Holzsteg endete in einer steilen Treppe, die bis ans Ufer der Grotte führte, wo mehrere große Holzkähne an einer Anlegestelle vertäut waren. Elben mit langen Ruderstangen warteten dort auf sie. Die Kähne waren lang genug, dass einer ausreichte, um sie vier und Faeringel aufzunehmen. Faeringels Männer bestiegen die anderen Boote, dort wurden auch die Bahren von Xenia und Dimitri untergebracht. Auf einen elbischen Befehl hin, den Tom natürlich nicht verstand, wurden die Taue gelöst. Die Fährmänner stakten die Boote durch das dunkle Gewässer.
»Es ist eine Reise von drei Tagen unter den Himmelmauerbergen hindurch. Wir fahren durch die Grotte, die den Eingang in eine lange Höhle bildet, durch die man unter dem Gebirge hindurchgelangt. Überschreiten können wir die Berge kaum, nicht mit so spärlicher Ausrüstung und Kleidung. Selbst die niedrigsten Gipfel der Himmelmauerberge liegen noch 4000 Meter über dem Meeresspiegel, die höchsten übertreffen sogar den Mount Everest unserer Welt«, klärte Nagamoto die anderen auf.
Die Fahrt durch die unterirdische Glitzerwelt verlief fast vollkommen lautlos. Kein Lüftchen regte sich hier unten, kein Flattern von Vögeln oder Fledermäusen, kein Summen und Sirren von Insekten. Niemand sagte ein Wort. Nachdem auch nur noch vereinzelt ein paar Lämpchen den Weg wiesen, wurde es um die Boote herum zudem recht dunkel. Stunden vergingen wie Tage, und die Tage glichen einer Ewigkeit. Sie alle verloren jedes Zeitgefühl. In der fast vollkommenen Stille schliefen sie bald ein und wurden nur kurz wach, wenn der Kahn schaukelte oder sich jemand räusperte.
Sie verließen die Regenbogengrotte und kamen in ein Höhlenlabyrinth, in dem die Edelsteinkolonien anderen fantastischen Kristallformationen wichen, die dank des Lichts der Elbenlampen in der Finsternis bläulich schimmerten.
Tamara schlief die ganze Fahrt über, lag zusammengekauert, schwitzend und zitternd im hinteren Bootsteil, drehte sich mal hierhin, mal dorthin. Sie bekam Fieber, und der Kampf gegen die Wunden zehrte ihre Kräfte auf. Veyron und Tom beobachteten sie voller Sorge, auch Faeringel schenkte ihr ihre Aufmerksamkeit. »Schratwaffen sind oftmals giftig. Sie werden nie geputzt und kommen mit allerhand Dreck und Unrat in Berührung. Die Wunden haben sich entzündet. Unser Trank vermag, den Tod von ihr fernzuhalten, doch um sie zu retten, braucht es die Heilkunst des Palastes. Außerdem liegt ein Schatten auf ihr, der ihre Genesung verhindert. Ich vermag nicht zu erkennen, was es ist, doch ich sehe den Kampf in ihrem Inneren«, meinte der Elb mit unheilschwangerer Stimme.
»Es ist der Widerstreit ihres Gewissens, der jetzt seinen Höhepunkt erreicht«, erklärte Veyron. »Sie war einmal erfüllt von Idealismus, von der Vision einer besseren Welt. Dafür wollte sie kämpfen, für die Freiheit der Menschen. Doch nach und nach zerbrachen ihre Träume. Was von der Freiheit übrig blieb, war nur bittere Wahrheit. Die hehren Ziele verkamen zu einem Schönreden des Wirklichen, um damit den Kampf, dem sie sich verschrieben hatte, weiter zu rechtfertigen, obwohl er längst verloren war. Keinem einzigen Menschen brachte sie die Freiheit, jedoch zahlreichen den Tod. Sie wurde zu einer Gejagten, gefürchtet und gehasst, anstatt geliebt und verehrt zu werden.
Welcher normale Mensch wird schon gerne gehasst und verachtet? Die letzten Menschen, die ihr noch Liebe und Verständnis entgegenbrachten, sind jetzt tot oder liegen im Sterben. Wir können uns nicht vorstellen, wie viel Kraft sie das alles gekostet hat, wie viele Nächte sie wach gelegen haben muss. Pausenlos drehten sich ihre Gedanken um ihr Tun, doch solange jemand bei ihr war, der für die gleichen Ideen einstand, kam ihr der Kampf nicht gänzlich sinnlos vor. Nun ist alles dahin – wie soll sie jetzt weiterleben? Für was soll sie noch kämpfen? Welchen Sinn macht es überhaupt noch, auf dieser Erde zu weilen?
Verdient Tamara Venestra daher nicht unser Mitleid? Hat sie denn nicht auch ein Recht darauf, geliebt und geachtet zu werden?«
Tom betrachtete seinen Paten aus großen und überrascht aufgerissenen Augen. Plötzlich bekam er ein schlechtes Gewissen, weil er Tamara gestern noch den Tod gewünscht hatte. Unter keinen Umständen wäre er bereit gewesen, ihr zu vergeben. Jetzt aber, wo er sah, welche Gedanken seinen Paten beschäftigten, kam er sich selbst kaltherziger vor, als er es Veyron je vorgeworfen hatte.
Er musste schlucken, bevor er sagte: »Ich habe geglaubt, Ihnen sei das Schicksal der Menschen völlig egal. Für Sie gäbe es immer nur knallharte Fakten und Informationen. Doch jetzt …«
»Jetzt siehst du mich um Tamara unsichtbare Tränen vergießen. Ja, so ist das mit mir. Veyron Swift leidet im Stillen, einsam und für sich selbst. Um mich herum geschieht so viel Unrecht. Menschen sterben, ich stehe nur daneben und analysiere, kalt und unnahbar – und doch leide ich immerzu. Ich leide und trauere still und verborgen, niemals darf ich mich offen meiner Trauer hingeben, mein Verstand verbietet es. Es würde meine Urteilskraft zu stark beeinflussen. Ich würde meine Unabhängigkeit verlieren und damit die Fähigkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.« Er lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und sog die kühle Luft der Höhle ein. »So schön diese Höhle auch ist, sie trübt meine Gedanken. Ich fange an, mich der Melancholie hinzugeben. Ich brauche Informationen, Tom. Informationen, um meinen Verstand daran zu wetzen. Das ist es, wofür ich geschaffen bin. Ruhe und Frieden, diese Dinge liegen mir nicht.«
Die Reise mit den Booten führte sie an zahlreichen weiteren Anlegestellen vorbei, welche die Talarin in dem Labyrinth unterhielten. An einer von ihnen frischten Faeringels Leute ihre Vorräte auf und versorgten die Wunden der Verletzten. Der golden schimmernde Heiltrank bewirkte zumindest bei Tom wahre Wunder. Der Fenris-Biss war im Nu verheilt, nur ein paar rote Punkte blieben auf der Haut zurück. Veyron und Nagamoto bekamen Gelegenheit, sich die Beine zu vertreten und sich einige der wunderschönen Kristallformationen genauer anzusehen. Nach kurzem Schlaf ging die Reise weiter. Dreimal legten sie solche Stopps ein, bis die Boote an einer letzten Anlegestelle festmachten. Sie lag in einer relativ schmucklosen Grotte, in der nur wenige Edelsteineinschlüsse im Felsgestein glitzerten. Von dort aus mussten sie erneut eine hölzerne Treppe erklimmen und kamen endlich wieder ins Tageslicht. Für Tom schien es eine Ewigkeit her zu sein, tatsächlich hatten sie jedoch nur drei Tage in der Finsternis verbracht.
Jetzt standen sie auf der anderen Seite der Himmelmauerberge. Zum ersten Mal konnten sie das Gebirge in seinem ganzen gewaltigen Ausmaß bestaunen. Wie ein Ring schien es das ganze Land zu umschließen, lediglich im Südwesten waren keine Berge zu sehen. Die Wälder wuchsen bis an die Schneegrenze, darüber die mächtig emporragenden Gipfel, überzogen von der weißen Pracht. Zu Füßen der titanischen Berge und ihrer großen Wälder lagen die Ländereien Fabrillians. Das ganze Land war eine hügelige Ebene, nur hier und da erhob sich eine Anhöhe oder unterbrach ein See die Hügellandschaft. Sie sahen Wiesen, die einem Teppich gleich über dem ganzen Land lagen. Weiter südlich ging das saftige Grün in ein regenbogenbuntes Blumenmeer über, während der ganze Norden des Landes nur aus Wäldern bestand.
Nachdem sie einen stundenlangen Abstieg zurücklegt hatten, kamen sie zu einem weiteren Fluss, diesmal groß und breit. Er führte in Schlangenlinien von den Bergen im Norden nach Süden, bis er mit dem Dunst des Horizonts verschmolz. Am Ufer des Flusses standen weitere Boote für sie parat, größer als die in der Höhle und auch von anderer Form, lang und schmal. Jedes Boot war mit sechs Rudern ausgestattet. Die Elben setzten sich an die Riemen, während Faeringel am Heck das Steuer übernahm. Als alle an Bord waren, legten die Boote ab, und sie ruderten den Fluss hinunter. Die Reise ging nun weitaus schneller voran, fast schon im Eiltempo.
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