Darauf ich wieder: „Joy, ich mach Spaß, natürlich weiß ich das! Erzähl mir bitte keine Dinge, die man einem Kind erzählt.“ Joy lacht, aber ich bin mir nicht sicher, ob meine Nachricht wirklich angekommen ist.
Wir machen eine Flussfahrt auf Bambusflößen durch eine wunderschöne Kulisse sanfter Hügel.
Die Mitreisenden fragen, woher ich komme, und bewegen dabei ihren Kopf fünf Zentimeter vor mein Gesicht, um mich in aller Ruhe zu rastern. Stirn, linkes Auge, rechtes Auge, linke Wange, rechte Wange, Nase, Mund, Kinn und Ohren. Um dann in vollster Überzeugung danebenzutippen – sie sind einstimmig der Meinung, ich käme aus den USA oder Kanada. Als sie schließlich hören, dass ich Deutsche sei, sagt der alleinstehende Sohn: „Ach, wusste ich es doch. Das sieht man an der Nase.“ Interessant, so viele Großnasen inklusive Höckern außerhalb meiner nahen Verwandtschaft kenne ich nicht in Deutschland. Es geht nichts über Stereotypen.
Auf dem Boot versucht eine Mitfahrerin, mit mir ein Gespräch anzufangen. Sie spricht ein bisschen Englisch. Sie erzählt mir, dass sie in einer Firma für Dentalgeräte arbeitet. Joy schreitet sogleich ein: „‚Dental‘, das heißt Zähne!“ Und hält mir dabei ihre – nicht immer besonders sorgfältig geputzten – Zähne ins Gesicht und deutet auffällig mit den Fingern darauf. Ich nur trocken: „Ich weiß, was ‚dental‘ heißt.“ Großes Gelächter bei den anderen Chinesen. Aber Joy hat es nicht verstanden.
Später sitzen wir beim Essen. In einem Suppentopf liegt ein ganzes Huhn. Auch ohne Federn unschwer zu erkennen, da inklusive Kopf und Füße. Daneben ein Teller mit grünem Zeug darauf. Joy: „So, Martina, das ist ein Huhn, das ist Gemüse.“ Ich mit großen, erstaunten Augen: „Was? Das soll ein Huhn sein, das ist ja interessant! Das hätte ich jetzt gar nicht erkannt.“ Joy, ohne mit der Wimper zu zucken: „Ja, da ist ein Huhn, das sieht man daran, dass … blabla.“ Ich wieder: „Joy, bitte behandle mich nicht wie ein Kind, das ist recht offensichtlich ein Huhn.“ Aber sie lacht nur wieder – ohne zu verstehen – und ich gebe es auf.
Den Abend verbringen wir im Hotelzimmer. Da Ānjí bei aller Größe (450.000 Einwohner) charakterlich ein Dorf ist, werden bei Sonnenuntergang – hier schon gegen 6 Uhr – die Bürgersteige hochgeklappt. Wir liegen somit um 7 Uhr abends in den Betten und sehen fern. „China’s got talent“, eine Talentshow. Exakte Kopie von „Britain’s got talent“, das wiederum auch in Deutschland und in 30 weiteren Ländern kopiert wurde („Deutschland sucht den Superstar“).
Das Format ist erfolgreich, insofern wird es eins zu eins kopiert – da kennen die Chinesen nichts, wie auch die Deutschen. Sogar die Frisuren und der Kleidungsstil der Jury sind identisch mit dem Original.
Das Prinzip ist so simpel wie wirkungsvoll: Die Kandidaten singen und tanzen, und die Jury lobt in den Himmel, ist übertrieben streng oder macht einfach schlechte Witze. Es werden Hausfrauen mit Traumstimmen entdeckt, und Jungs aus schlechten Verhältnissen entpuppen sich als Tanztalente.
Das Konzept ist sprachübergreifend – da kommt man auch recht gut ohne jegliche Chinesischkenntnisse zurecht.
Joy meint es unglücklicherweise wieder zu gut mit mir – und übersetzt synchron, auch das Offensichtliche: „Jetzt singt sie. Und sie hat eine schöne Stimme … Jetzt tanzt er …“ Ich raune nur und versuche, neben Joys Stimme auch die Frau im Fernsehen in der Tat singen zu hören.
Und irgendwann dreht Joy sich ganz erstaunt zu mir und sagt verwundert: „Du scheinst alles von dieser Sendung zu verstehen, auch ohne Chinesisch zu sprechen.“
Ich erwidere nur ermattet, wir hätten dasselbe in Deutschland. Ich kann nichts mehr weiter sagen.
Am Sonntagnachmittag, auf der Rückfahrt, kann ich nur noch „hm“ und „aha“ kommentieren und nicht mehr zuhören. Die Verabschiedung gleicht einer Flucht. Ich freue mich riesig auf meine lustigen Mitbewohner, die sich kringeln vor Lachen über die Geschichten. Wir sitzen alle vier bei Arnaud im Zimmer, erzählen und klimpern dabei ein bisschen auf Klavier und Gitarre herum.
Hénán – ab in die tiefste chinesische Provinz
Die zweite Reise ist von ganz anderer Natur. Shirley hat mich eingeladen, sie über die Feiertage zu ihrer Familie nach Xìnyáng in der Provinz Hénán zu begleiten.
Hénán wird von den Chinesen als provinzieller, rauer Nordwesten gesehen. Geografisch liegt es jedoch noch in der östlichen Mitte von China in einer Bergregion. Es ist die bevölkerungsreichste Provinz Chinas und gilt als Ursprung der chinesischen Kultur. Im Reiseführer waren auch zahlreiche Sehenswürdigkeiten eingezeichnet, alle entlang des Gelben Flusses – alle im Norden der Provinz.
Shirleys Heimatstadt Xìnyáng liegt weit im Süden der Provinz Hénán. Weit weg von jeglichen Sehenswürdigkeiten. Shirley warnt mich: „Dort gibt es nichts, GAR NICHTS!“ Nur Shirleys Familie. Und genau darum geht es mir.
Trotz seiner 7,9 Millionen Einwohner wirkt Xìnyáng eher wie eine mittelgroße Provinzmetropole. So ein bisschen wie das Ingolstadt von China.
Bemerkenswert ist, dass solch eine Millionenstadt ausschließlich mit dem Bummelzug zu erreichen ist. Die Fahrt dauert zwölf Stunden, das Ticket kostet dafür aber nur umgerechnet 27 Euro. Am Bahnhof in Shànghǎi warten mit uns an die tausend Leute in einem Wartesaal. Auf Kommando aus dem Lautsprecher drängeln sich dann alle Menschen, Kinder und Koffer durch eine klitzekleine Schleuse (mit Karten abzwickendem Schaffner), um zum Gleis zu gelangen.
Wir fahren über Nacht und schlafen in äußerst bequemen Schlafabteilen. An diesen Abteilen kann sich die Deutsche Bahn samt den deutschen Bahnfahrern wirklich ein Stück abschneiden. Wer noch ein Mal behauptet, in China sei alles eng und klein, dem spendiere ich ein Ticket mit dem Nachtzug nach Hénán. Die Betten sind weich, die Decken dick, warm und sauber, die Korridore breit und die Leute diszipliniert. Zudem gibt es bei den sanitären Anlagen einen Hahn für kostenloses heißes Trinkwasser für Suppe oder Tee. Zwischen den Abteilen ist zwar keinerlei Abtrennung, aber auch keine akustische Störung. Denn es sind einfach alle leise – sogar die nicht wenigen Kleinkinder. Um 10 Uhr nachts geht das Licht aus, und die Reisenden schlafen wie auf Knopfdruck.
Davor unterhält uns der Schaffner ein wenig. Zwei Stunden sitzt er auf Shirleys Bett, weil er einerseits Shirley so nett findet und zudem noch nie eine Europäerin gesehen hat. Ich beobachte das Gespräch zwischen ihm und Shirley aufmerksam. Auch wenn ich nichts verstehe, so ist es doch eine offensichtliche Situation: Der Schaffner scheint all seinen Mut zu sammeln, rutscht verlegen auf der Pritsche hin und her und suchte nach Worten. Schlägt die Augen auf und zu und traut sich nicht, Shirley anzusehen. Ich sage zu Shirley: „Er sah gerade so aus, als würde er Dir einen Antrag machen.“ Shirley lacht nur und meint: „Fast – er hat nach meiner Telefonnummer gefragt.“

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