„Halte deine Augen geschlossen, atme wieder tief ein und aus und stell dir nun einen Ort vor, an dem du dich richtig wohl fühlst! Das kann ein Ort am Meer, in den Bergen oder auf einer Wiese sein. Das kann ein Haus sein, oder ein Platz in freier Natur. Was immer du möchtest, wo immer du dich so richtig wohl fühlst. Deiner Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Welche Atmosphäre herrscht an deinem Ort? Versuche, sie mit all deinen Sinnen zu erfassen!
Spüre das Gras, den Wind, den Sand unter deinen Füßen. Höre die Vögel zwitschern, lausche den Klängen der Natur!“
Gurudschi machte eine Pause und fragte mich schließlich: „An welchem Platz bist du nun, Tara?“
Ich hatte einen wunderschönen Ort gefunden.
„Ich bin auf einer Lichtung. Es ist warm und sonnendurchflutet. Vor mir sprudelt ein Wasserfall, ungefähr drei Meter hoch. Das Wasser fließt am Boden in ein Bächlein, in dem hier und dort größere Steine liegen. Überall wachsen bunte, üppige Pflanzen. Die Vögel zwitschern und das Wasser plätschert. Rechts steht eine Schaukel mit zwei Sitzen.“
Ich hatte das Gefühl tatsächlich an diesem Platz zu sein.
„Geh hinüber zu der Schaukel und setz dich darauf, Tara, und genieße den Augenblick!“
Ich setzte mich auf die Schaukel und überließ mich ganz diesem beinahe himmlischen Ort.
Nach einer Weile forderte mich Gurudschi auf, wieder zurückzukommen: „Nun hast du deinen ganz persönlichen geistigen Meditationsort gefunden, deinen Rückzugsort. Hierhin kannst du kommen, wann immer du möchtest.“
Ich öffnete die Augen und fühlte mich sehr glücklich.
Es hatte geklappt. Ich hatte den ersten Schritt verstanden. Ich strahlte Gurudschi an, und er lächelte zufrieden.
„Du bist eine gute Schülerin, Tara.“
Wir saßen noch eine Weile schweigend, bis Gurudschi schließlich meinte:
„Es ist nun an der Zeit, nach Hause zu gehen, in dein Leben. Integriere die Ruhe und die Stille in deinen Alltag, Tara! Du wirst sehen, es wird dir sehr gut tun.“
Gurudschi faltete die Hände und verneigte sich leicht, so wie er es auch beim letzten Mal zum Abschied getan hatte. Es war also wirklich an der Zeit zu gehen.
Ich musste mich regelrecht losreißen von diesem herrlichen Fleckchen des Friedens.
„Komm wieder, wann immer du möchtest!“
Noch einmal trank ich aus Gurudschis Augen Liebe und Frieden, bevor ich das Floß verließ, trat hinaus auf den Anlegesteg, und es kam, wie es kommen musste: Wie beim letzten Mal drehte ich mich um und wollte Gurudschi zum Abschied winken, aber…
...das Floß war verschwunden. Ich schaute auf meine Uhr, und wieder war zwischen meiner Ankunft und jetzt nicht eine Sekunde vergangen.
Merkwürdig! Sehr seltsam, das Ganze.
Und erneut war ich ziemlich verwirrt. Was war nur los? So etwas konnte es doch gar nicht geben.
Ich ging ans Ufer und blickte auf den Fluss. Immer noch durcheinander, steckte ich die Hände in die Hosentaschen, und dabei entdeckte ich den Spruch wieder, den Gurudschi mir vorhin gegeben hatte. Das war der Beweis: Es war also wirklich alles geschehen!
Und so war dieser Streifen Papier für mich ein wahrer Schatz. Aufgeregt lief ich nach Hause.
Ich zündete Kerzen an, setzte mich auf ein Kissen und faltete den Zettel auseinander:
Stille ist ein großer Segen, sie reinigt
das Gehirn, gibt ihm Vitalität.
Und diese Stille erzeugt große Energie,
nicht nur die Energie des Denkens
oder die Energie von Maschinen,
sondern unverdorbene Energie,
die unermessliche Kräfte und Fähigkeiten hat.
Dies ist der Ort, wo das Gehirn,
das sehr aktiv ist, still sein kann.
Eben diese intensive Aktivität des Gehirns
hat die Eigenschaft und die Schönheit der Stille.
(Jiddu Krishnamurti)
Immer und immer wieder las ich den Spruch.
Am nächsten Morgen wurde ich, auf dem Teppich liegend, wach. Ich war wohl irgendwann erschöpft, aber sehr glücklich eingeschlafen. An diesem Morgen jedenfalls ging es mir super. Ich fühlte mich voller Kraft und rundum glücklich!
Strahlend erreichte ich das Büro.
Heute fiel mir die Arbeit richtig leicht.
Anna, meine Assistentin, wunderte sich scheinbar sehr über mich und sah mich immer wieder merkwürdig von der Seite an. Man konnte richtig sehen, was in ihrem Kopf vorging: Sie wunderte sich über meine plötzlich ausgezeichnete Laune, wo ich doch in letzter Zeit wirklich nur noch frustriert und gereizt gewesen war. So, wie sie mich anschaute, dachte sie vermutlich, ich sei frisch verliebt.
Vorsichtshalber sprach Anna mich aber nicht darauf an. Erst einmal abwarten. Heute war jedenfalls ein toller und sogar erfolgreicher Arbeitstag.
Zur Belohnung ging ich mittags in mein Lieblingsbistro. Was für ein herrlicher Tag! – Ich bestellt mir eine Portion Spaghetti Mediterranea und eine Tasse Latte Macchiato.
Mir war irgendwie nach Feiern zu Mute.
Ich nahm mein Buch, das ich mir mitgebracht hatte, und begann darin zu lesen.
Doch plötzlich fiel ein Stück Papier heraus.
Ich hob es auf und las verwundert:
Je mehr ihr euch auf die innere Welt konzentriert, umso weniger Schwierigkeiten werdet ihr
äußerlich haben...
Noch seid ihr begrenzt, aber wenn es euch
durch tägliche Meditation gelingt,
euer Bewusstsein von der endlichen Welt in die
Unendlichkeit auszudehnen, seid ihr frei.
(Paramahansa Yogananda)
Mir blieb die Luft weg. Woher kam dieser Zettel? War Gurudschi etwa auch hier? Ich blickte mich in dem Bistro um, aber alles war wie immer. An den Tischen saßen einige Leute, von Gurudschi jedoch weit und breit keine Spur.
Langsam wurde mir klar, dass die Dinge, die mir im Moment passierten, mit „normalem Menschenverstand“ nicht nachzuvollziehen, geschweige denn zu verstehen waren.
Ich las den Spruch noch einmal. Eines war klar: Dieser Zettel war nicht zufällig hier. Da war ich mir absolut sicher. Dieser Zettel musste eine Botschaft für mich sein! Für mich ganz persönlich! Wahrscheinlich hatte Gurudschi wieder seine Finger im Spiel. Und sogleich erfüllte mich ein Gefühl der Zuneigung für ihn. Sorgfältig steckte ich den Zettel in meine Tasche.
Diese Zettel mit den Botschaften aus einer scheinbar anderen Welt waren für mich so wertvoll wie ein Schatz voller Diamanten. Ach, was rede ich. Ich begann zu begreifen, dass sie einmal viel, viel wertvoller sein würden als alles, was man kaufen kann.
Der Rest des Tages verging wie im Flug. Gemeinsam mit dem Team suchten Anna und ich das Material für die neuen Sommerkleider aus. Wir fanden wunderschöne, farbenfrohe Dessins und herrliche, weich fließende Stoffe. Die Stimmung im Büro war gelöst und fröhlich.
Als ich abends endlich zu Hause war, beschloss ich, mein Wohnzimmer umzugestalten, indem ich eine Ecke in eine Meditationsecke umwandelte. Dazu legte ich nur das neue safrangelbe Kissen, das ich mir in der Mittagspause besorgt hatte, auf den Boden, stellte ein Tischchen davor und hängte eine Magnettafel an der Wand auf, an der ich meine zwei Schatzzettel befestigte.
Gesagt, getan. Jetzt stellte ich noch einige Kerzen auf ‒ und das Werk war vollbracht.
Als ich fertig war, betrachtete ich das Ergebnis und war zufrieden:
Es sah feierlich aus, fast wie ein kleiner Altar.
Genau, das hier war jetzt meine kleine Hauskapelle
Zufrieden setzte ich mich im Schneidersitz auf mein neues Kissen und weihte meine neue Ecke ein.
Ich nahm meine Eintrittskarten, die Ruhe, die Stille, das Nichtstun, und tauchte darin ein.
Zuerst erschienen wieder die abenteuerlichsten Gedanken, aber dieses Mal ließ ich mich nicht aus der Ruhe bringen. Immer wieder hüllte ich meine nervigen Ruhestörer liebevoll in Seifenblasen und ließ sie dann ziehen. Das ging eine ganze Weile so, doch schließlich hatte ich es geschafft: Ein wunderbares, tiefes Glücksgefühl, Tränen der Rührung stiegen mir in die Augen. Welch erhebender Augenblick!
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