Es ist schwer, eine Vorstellung von dem Grade stolzer und seliger Freude zu geben, zu welchem das finstere und scheußliche Gesicht Quasimodo's auf dem Wege vom Palaste bis zum Grèveplatze gekommen war. Das war der erste Genuß der Eigenliebe, den er jemals empfunden hatte. Bisher hatte er nur Erniedrigung, Verachtung gegen seine Lebenslage und Ekel vor seiner Person gekannt. Daher verschlang er, trotz seiner Taubheit, wie ein wahrhaftiger Papst die Beifallsrufe dieser Menge, welche er haßte, weil er sich von ihnen verabscheut fühlte. Daß sein Volk eine Bande von Narren, Lahmen, Dieben, Bettlern war, was that's? Es war doch immer ein Volk, und er ein Herrscher. Und er nahm für baaren Ernst alle diese spöttischen Beifallsäußerungen, alle lächerlichen Ehrfurchtsbezeugungen, in die sich sicherlich von seiten der Menge etwas wirkliche Furcht hineinmischte. Denn der Bucklige war stark, der Krummbeinige behend und bei seiner Taubheit boshaft: drei Eigenschaften, welche das Spaßhafte an ihm verminderten.
Uebrigens sind wir weit entfernt, zu glauben, daß der neue Narrenpapst sich selbst Rechenschaft gab von den Empfindungen, welche er empfand, und von denen, welche er einflößte. Der Geist, welcher in diesem mangelhaften Körper wohnte, hatte notwendigerweise selbst etwas Unvollkommenes und Unempfindliches angenommen. Daher war das, was er in diesem Augenblicke empfand, für ihn durchaus unbestimmt, unklar und verworren. Nur die Freude blickte durch, der Stolz herrschte vor. Diese düstere und unglückliche Erscheinung hatte auch ihr Glück.
Nicht ohne Staunen und Schrecken sah man daher, daß plötzlich, in dem Augenblicke, wo Quasimodo im Triumphe und halbberauscht vor dem Säulenhause vorbeizog, ein Mann aus der Menge hervorstürzte und ihm mit zorniger Geberde das Abzeichen seiner närrischen Papstwürde, den Bischofsstab von vergoldetem Holze, aus den Händen riß.
Diese tollkühne Person war der kahlköpfige Mann, welcher kurz zuvor sich in die Gruppe um die Zigeunerin gemischt und das arme Mädchen mit seinen drohenden und gehässigen Reden erschreckt hatte. Er trug die Tracht eines Geistlichen. In dem Augenblicke, als er aus der Menge heraustrat, erkannte ihn Gringoire, der ihn bis dahin nicht bemerkt hatte, wieder. »Halt,« rief er mit einem Ausrufe des Erstaunens, »hei! das ist ja mein Lehrer in der Weisheit des Hermes,Hermes Trismegistos, eine mythische Person galt bei den Alten für den Erfinder der Wissenschaften, namentlich auch der Geheimwissenschaften (Alchemie, Goldmacherkunst &c.). Anm. d. Uebers. Don Claude Frollo, der Archidiaconus. Was Teufel will er von diesem rohen Einäugigen? Er will sich gewiß auffressen lassen.«
Ein Schrei des Entsetzens erscholl in der That. Der furchtbare Quasimodo hatte sich von dem Tragsessel heruntergestürzt, und die Weiber hatten die Augen weggewandt, um nicht zu sehen, wie er den Archidiaconus in Stücke reißen würde. Er that einen Sprung auf den Priester los, sah ihm ins Gesicht und fiel auf die Knie nieder. –
Der Priester entriß ihm seine Tiara, zerbrach ihm den Bischofsstab und zerfetzte seinen Flittergoldmantel.
Quasimodo blieb auf den Knien liegen, neigte den Kopf und faltete die Hände.
Darauf entspann sich zwischen ihnen ein sonderbares Zwiegespräch aus Zeichen und Geberden; denn weder der eine noch der andere sprach ein Wort: der Priester aufgerichtet, erzürnt, drohend, herrisch, Quasimodo niedergeschmettert, demüthig, flehend. Und doch ist es sicher, daß Quasimodo den Priester mit dem Daumen hätte zerreißen können.
Endlich rüttelte der Archidiaconus Quasimodo heftig an der Schulter und gab ihm ein Zeichen, sich zu erheben und ihm zu folgen.
Quasimodo erhob sich.
Jetzt wollte die Genossenschaft der Narren, nachdem das erste Staunen vorüber war, ihren so plötzlich entthronten Papst beschützen. Die Zigeuner, die Gauner und die ganze Gerichtsschreibergilde schaarten sich schreiend um den Priester.
Quasimodo stellte sich vor den Geistlichen, ließ die Muskeln seiner athletischen Fäuste spielen und sah die Angreifer mit dem Zähnefletschen eines gereizten Tigers an.
Der Priester nahm seine düstere Würde wieder an, machte Quasimodo ein Zeichen und zog sich schweigend zurück.
Quasimodo ging vor ihm her und stieß die Menge auf seinem Wege bei Seite.
Als sie durch die Menge hindurch waren, und den Platz überschritten hatten, wollte der Schwarm der Neugierigen und Müßiggänger ihnen folgen. Quasimodo bildete jetzt die Nachhut und folgte dem Archidiaconus rückwärts, tückisch, entsetzlich, struppig, indem er seine Gliedmaßen zusammenraffte, wie ein Eber seine Stoßzähne leckte, wie ein wildes Thier brüllte, und der Menge mit einer Bewegung oder Miene das größte Entsetzen einjagte.
Man ließ sie beide in einer engen und finstern Straße verschwinden, wohin sich niemand hinter ihnen her wagte, so sehr versperrte der bloße Gedanke an den zähnefletschenden Quasimodo den Eintritt in dieselbe.
»Wahrhaftig, das ist höchst sonderbar,« sagte Gringoire, »aber wo zum Teufel werde ich etwas zum Abendessen finden?«
4. Unannehmlichkeiten, die entstehen, wenn man einem hübschen Frauenzimmer abends in den Straßen nachgeht.
Gringoire hatte sich angeschickt, der Zigeunerin aufs Gerathewohl zu folgen. Er hatte sie mit ihrer Ziege die Straße de la Coutellerie einschlagen sehen; er hatte auch die Straße de la Coutellerie eingeschlagen.
»Warum nicht?« hatte er sich gesagt.
Gringoire hatte, als praktischer Philosoph der Straßen von Paris, die Bemerkung gemacht, daß der Träumerei nichts so günstig ist, als einem hübschen Frauenzimmer zu folgen, ohne daß man weiß, wohin sie geht. Es liegt in dieser freiwilligen Entäußerung seines freien Willens, in dieser Phantasie, welche sich einer andern unterordnet, ohne daß sie es ahnt, ein Gemisch von eigensinniger Unabhängigkeit und blindem Gehorsam, so zu sagen ein Mittelding zwischen Sklaverei und Freiheit, welches Gringoire, dem von Natur unklaren unentschiedenen und sanguinischen Kopfe, gefiel, der alle Extreme in sich vereinigte, und unaufhörlich zwischen allen menschlichen Neigungen schwankend, eine durch die andere vereitelte. Er verglich sich selbst gern mit Muhameds Grab, welches nach entgegengesetzten Seiten von zwei Magneten gezogen wird, und ewig zwischen Höhe und Tiefe, zwischen Wölbung und Boden, zwischen Fall und Aufflug, zwischen Zenith und Fußpunkt schwankt.
Wenn Gringoire heutzutage lebte, welche schöne Mitte würde er zwischen Klassischem und Romantischem einhalten!
Aber er war nicht naiv genug, um drei Jahrhunderte lang zu leben, und das ist schade. Sein Fehlen verursacht eine Leere, die sich heutzutage nur zu sehr fühlbar macht.
Doch, um in den Straßen den Passanten (und vor allem den Passantinnen) nachzugehen, giebt es keine bessere Veranlassung, als nicht zu wissen, wo sein Haupt niederlegen.
Er ging also, ganz in Gedanken versunken, hinter dem jungen Mädchen her, das seine Schritte beschleunigte und die niedliche Ziege Trab machen ließ, als es sah, daß die Bürger heimkehrten und die Weinschenken, die einzigen Geschäfte, welche an diesem Tage geöffnet waren, sich schlossen.
»Aller Wahrscheinlichkeit nach,« dachte er ohngefähr, »muß sie doch wohl irgendwo wohnen; die Zigeunerinnen sind gutmüthig. Wer weiß? . . .«
Und in seinem Kopfe entstanden nach diesem Fragezeichen, welches seinem Schweigen folgte, gewisse, ziemlich liebliche Vorstellungen. Dabei erhaschte er, während er vor den letzten Gruppen der Bürger, die ihre Thüren schlossen, vorbeiging, manches Bruchstück ihrer Unterhaltungen, welches die Kette seiner lieblichen Vermuthungen zerriß.
Jetzt waren es zwei Alte, welche sich anredeten.
»Meister Thibaut Fernicle, wißt Ihr was, es ist kalt.« (Gringoire wußte das seit Anfang des Winters.)
Читать дальше