Heute ist Montag, also hält er nun seine Rede. Ich schweife gedanklich immer wieder ab, weil ich es nicht mehr ertrage, ihm zuzuhören. Ich traue mich nicht, mich umzublicken, doch ich weiß bereits, welches Bild sich mir bieten würde. Die Plane ist das Zentrum der gesamten Einheit, so gesehen das Herzstück. Das Hauptgebäude des Obersten gleicht einem gigantischen Wolkenkratzer, der sich hoch in den Himmel streckt.
»Nun versammelt euch bei euren Ausbildern, Soldaten!«, brüllt er in das Mikro.
Es ist das Zeichen, dass wir uns nun zu unseren täglichen Trainingseinheiten begeben dürfen, in denen wir Dinge wie Schießtraining, Nahkampf, Kampftechniken, Überlebenstraining und Fachwissen in verschiedenen Gebieten erlernen. Sie bilden uns zu Soldaten aus, doch es ergibt keinen Sinn, denn niemand weiß, für welchen Krieg.
Mit meinem Abschnitt mache ich mich auf den Weg zur Schießhalle, wo unser Ausbilder G40 bereits auf uns wartet. Er begleitet uns bereits, seit ich vor zwei Jahren hier ankam. Er hat kurz geschorenes Haar und ich schätze ihn auf Ende zwanzig. Er zieht immer seine Augenbrauen nach unten, um uns strenger zu mustern.
– Dylan –
Tick, tick, tick, tick, tick, tick, tick …
Ich habe die Zeit vergessen, während ich hier zu lange allein im Transporter sitze, der mich geradewegs in die Einheit fährt. Den Plan, den ich zusammen mit Zach ausgearbeitet habe, ist simpel. Wir haben beschlossen, dass ich mich stelle und vorgebe, einer von denen zu sein, eine Hülle. Und wenn ich in der Einheit bin, werde ich schauen, wie die Lage ist, ob es noch Wache unter ihnen gibt und ob wir überhaupt eine Chance haben zu überleben. Und vielleicht werde ich ihr begegnen.
Sie ist bekannt als der ganze Stolz der Einheit. Sie ist mit Abstand die Beste und extrem gefährlich. Als ich vor längerer Zeit in eine Stadt bin, um etwas zu essen aufzutreiben, waren überall Plakate und Artikel von ihr. Aufzeichnungen über sie. So wie von dem Obersten liefen sie überall auf öffentlichen Bildschirmen. Die Einheit will uns Angst machen. Sie wollen uns zeigen, dass sie uns eines Tages ausliefern oder töten.
Zach sagte, dass ich sie, wenn ich die Möglichkeit dazu bekomme, töten soll, und das werde ich. Das wäre ein großer Triumph für die Rebellen, denn sie repräsentiert diese Einheit. Die Menschen, die das hier vor zwei Jahren begonnen haben, sollen für die unzähligen Tode büßen. Für meinen kleinen und meinen großen Bruder sollen sie büßen. Von dem Gedanken an meine Geschwister wird mir schwer ums Herz. Doch das ist nun mal jetzt mein Leben, und ich werde kämpfen bis zum letzten Atemzug.
Zach ist zwar erst fünfzehn, aber eindeutig der Schlaueste von uns. Ich vermisse unsere kleine Rebellengruppe jetzt schon. Mit mir sind wir zu fünft – fünf Menschen, die mit allen Mitteln zu überleben versuchen. Wir ziehen durch die Wälder, in der Hoffnung, auf Wache zu stoßen. Das ist allerdings gar nicht so einfach, weil die Hüllen aus der Einheit uns aufspüren wollen. Und sie sind uns ständig gefährlich dicht auf den Fersen.
May – sie ist erst zehn und damit die Jüngste – schaute mich unter Tränen an und flehte, ich solle unbedingt sicher wieder zurückkommen. Sie erinnert mich an meinen kleinen Bruder, denn sie zaubert jedem ein Lachen ins Gesicht. Man vergisst all das Leid, wenn man ihr zuschaut, wie sie im Sonnenlicht tanzt, und ihre roten Locken dabei auf und ab springen … auf und ab. Ich werde für May zurückkommen, das habe ich ihr versprochen. Als ich die Kleine vor zwei Jahren einsam mitten im Wald hinter einem Baum fand, blickte sie zu mir hoch, und eine einzelne Träne rann ihr über die kindlichen Wangen. Ich wusste, sie ist jemand ganz Besonderes.
Und dann, nicht zu vergessen, ist da Skyl, der ein Jahr jünger ist als ich. Er ist sechzehn und nimmt, wie ich finde, das alles hier zu locker. Mir ist klar, dass er vieles überspielt, aber er macht immer wieder Bemerkungen in den ungünstigsten Situationen, womit er uns schon einiges an Problemen eingebracht hat.
Mason ist mit Abstand der Älteste. Er ist zweiundzwanzig und damit auch in der größten Gefahr, denn wenn er von einer Hülle gestellt wird, ist er tot. Aber man ist wohl lieber tot, als eine Hülle zu sein. Ich verabscheue sie so sehr.
Jetzt sitze ich im Transporter und warte, bis die Tür wieder aufgeht, damit ich den Plan durchziehen kann. Ich fühle mich nicht wirklich sicher, weil ich keine Waffen bei mir trage. Ich muss meine Rolle perfekt spielen. Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich habe schon lange aufgehört, mich aus bestimmten Situationen herauszuwünschen, es hat ohnehin kein Zweck.
Mit einem Ruck kommen wir zum Stehen. Es ist so weit, wir sind in der Einheit. Mit einem Quietschen geht die Tür auf und ich klettere in das Ungewisse – Dunkle.
»Los raus, Soldat, beeil dich«, kommt von einer männlichen, ausdruckslosen Stimme.
Ich spüre wie es in mir wie verrückt zu brodeln beginnt, sich meine Hände zu Fäusten ballen und meine Atmung kürzer wird. Doch ich muss es unterdrücken, wenn ich hier wieder lebendig heraus will.
Wir laufen durch einen dunklen Gang, bis wir vor einer Stahltür stehen bleiben. Der Mann neben mir legt seinen Finger auf einen Scanner, und die Tür öffnet sich. Mit dem Öffnen der Tür wird der dunkle Gang von hellem Licht durchflutet. Meine Augen gewöhnen sich nur langsam an die Helligkeit.
Ein weißer Korridor liegt vor uns, und ich wage einen kurzen Blick zu dem Mann, damit ich ein Gesicht vor Augen habe. Seine Gesichtszüge wirken bedrohlich, er wirkt, als strotze er vor Selbstvertrauen. Er hat einen stabilen, trainierten Körper und Narben auf seinen nackten Unterarmen. Ich wende den Blick ab und schaue mich unauffällig um, während wir dem Korridor folgen. Zach hat mir den gesamten Aufbau und die Aufteilung der Einheit genau erklärt. Ich weiß, wo ich bin.
Shit. Ich bin im verdammten Hauptgebäude des Obersten. Der weiße Korridor zieht sich in die Länge, und rechts an der Wand hängen in regelmäßigen Abständen Porträts des ranghöchsten Obersten. Immer dasselbe Porträt.
»Du kommst in Sektor E. Deine Nummer lautet E0489.«
Irgendetwas in mir signalisiert mir, dass etwas nicht stimmt. Es ist zu einfach, doch momentan muss ich es erst einmal so hinnehmen. Der Mann führt mich aus dem Gebäude.
Unfassbar.
Ich habe gewusst, dass die Einheit riesig ist, doch es ist unvorstellbar. Ich stehe auf einer Art gigantischem Platz ohne jegliche Pflanze oder Farbe. Alles ist grau und trist. Ich sehe auch hochmoderne Gebäude, es ist geradezu wie in einem Science-Fiction-Film. Wenn ich diesen Platz überqueren sollte, wäre ich vermutlich einen ganzen Tag unterwegs. Die Einheit ist eine eingezäunte Stadt.
Der Mann mustert mich und blickt sich um. »Das hier ist die Plane. Willkommen in der Einheit, Soldat. In vierzehn Tagen bekommst du eine Auffrischung des Mittels. Außerdem wirst du ärztlich behandelt und durchgecheckt. Bis dahin wirst du dich ruhig verhalten und deine Ausbildung anfangen. Ich bin übrigens der Ausbilder deines Abschnitts. Wir werden uns öfter begegnen.«
Alles klar. Ich habe genau vierzehn Tage, um hier wieder rechtzeitig rauszukommen – und dem Ausbilder so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.
»Du wirst mich Sir G40 nennen, Soldat.«
Ich antworte einfach das Erste, was mir in den Sinn kommt: »Jawohl, Sir G40.«
»Komm mit, die anderen sind gerade beim Schießtraining«, sagt G40.
Ich folge ihm über die Plane zu einem hochmodernen Gebäude, das sich ziemlich in die Breite zieht. Es besteht aus sehr viel Glas, so wie auch das Hauptgebäude des Obersten, doch von draußen kann man nicht hineinschauen. Ich bin mir aber sicher, dass man von innen sehr gut hinausschauen kann. Am Eingang angekommen scannt G40 wieder seinen Fingerabdruck, und die Tür gleitet blitzschnell auf. Mit einer Handbewegung bedeutet er mir, einzutreten. Alles ist wie im Film. Am liebsten würde ich mich in alle Richtungen umblicken und diese neue Welt bestaunen, mich davor fürchten und mir alles ganz genau einprägen. Doch ich brauche meine gesamte Konzentration, um meine Maske zu bewahren.
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