1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Sie merkte, dass sie den Faden verlor und Schwierigkeiten hatte, klar zu denken. Ihr fiel nichts Besseres ein, als das Angebot, das sie sich ausgedacht hatte, doch noch zu machen.
„Sie lassen sich also nicht von mir zum Friedhof fahren?“
Ein leichter Ruck ging durch seinen Oberkörper. Immer noch sah er sie an.
„Warum wollen Sie das tun?“
Am einfachsten wäre es, jetzt die Wahrheit zu sagen, dachte sie. Aber es war zu früh. Mit Sicherheit würde er sich sofort wieder verschließen, und sie würde nichts aus ihm herausbekommen. Zuerst musste sie sein Vertrauen gewinnen.
„Sie haben mir nun einmal davon erzählt, dass Ihre Frau gestorben ist. Ich will etwas für Sie tun.“
Sie sah, wie die Mundwinkel unter seinem Bart zuckten, und erwartete schon eine spöttische Erwiderung. Doch stattdessen sagte er:
„Wir können zusammen Einkaufen fahren.“
Sie zögerte einen Moment und sagte dann matt:
„Von mir aus, wenn Ihnen das lieber ist.“
Er humpelte ins Haus, kehrte nach einer ganzen Weile vollständig angezogen zurück, drückte er ihr den Schlüssel zur Schranke in die Hand und sagte: „Damit Sie mich hier abholen können“, als sei diese zusätzliche Mühe selbstverständlich. Eigentlich hatte sie vorgehabt, nach Reisstadt zu fahren, doch an der Weggabelung, an der sie hätte abbiegen müssen, lotste er sie in die Gegenrichtung. Sie kamen auf einen unbefestigten Waldweg, auf dem sie mehrfach tiefen Schlaglöchern ausweichen musste. Der Alte zuckte nicht mit der Wimper.
„Sind Sie sicher, dass wir hier weiter kommen?“
Er lachte auf, ein abgehacktes Lachen, das einen Schleimklumpen in seinen Kehlkopf hinaufkatapultierte.
„Ach, Mädchen.“
Es war das erste Mal, dass er sie so nannte. Sie wusste, dass sie gut beraten wäre, sich diese Vertraulichkeit sofort zu verbitten, aber sie schwieg.
„Jetzt, im Spätsommer, geht es noch. Im Winter und bei Tauwetter ist überhaupt kein Durchkommen.“
„Wie haben Sie dann Ihre Einkäufe erledigt?“
„Grete ist um diese Jahreszeit mehrmals kurz hintereinander gefahren, um Vorräte anzulegen.“
„Allein?“
Er antwortete nicht auf ihre Frage, sondern sagte:
„Diese sogenannte Straße war eine der Hauptwaffen im Krieg gegen Radorf. Sie haben sie bewusst verkommen lassen. Bis die Männer, die hier jeden Morgen zur Arbeit lang mussten, davon überzeugt waren, besser anderswohin zu ziehen.“
„Aber sie haben es freiwillig getan?“
Wieder das abgehackte, verschleimte Lachen.
„Was ist freiwillig daran, wenn man aus dem Dorf nicht mehr wegkommt? Wenn die Stromleitung Jahrzehnte nicht erneuert wird? Wenn der Schulbus für die Kinder abgeschafft wird? Natürlich ist das alles passiert, weil bestimmte Leute von der Dorfauflösung profitiert haben. Allen voran unser Bürgermeister. Der sahnte über den Verkauf seines Grundstücks und die Entschädigung gleich zweifach ab. Der hat uns das alles eingebrockt.“
Seine Stimme zitterte jetzt vor Wut.
„Aber Sie und Ihre Frau konnten bleiben. Niemand hat Sie mit Gewalt vertrieben.“
„Ich musste kämpfen.“
„Wenn Sie im Grenzgebiet der DDR gewohnt hätten, wäre der Kampf aussichtslos gewesen.“
„Ach daher weht der Wind. Ostdeutsches Selbstmitleid. Ist ja modern geworden seit der Wende.“
„Woher kennen Sie sich so gut mit Ostdeutschen aus?“
„Grete hatte eine Cousine in Ostberlin. Sie hat immer darauf bestanden, ihr zu Weihnachten und zu den Geburtstagen ihrer sämtlichen Kinder Päckchen zu schicken, obwohl wir selbst kaum über die Runden kamen. Und als die Mauer gebaut wurde, hat sie Tage vor dem Radio verbracht, obwohl wir hier genug Probleme hatten. Damals lief die Kampagne zur Zerstörung Radorfs auf Hochtouren. Aber Grete war mit ihren Gedanken im Osten. Dauernd musste ich mir anhören, wie sehr die Menschen dort litten. Ermüdend.“
Edith schwieg und versuchte, die Bilder niederzukämpfen, die vor ihrem inneren Auge auftauchten. Mittlerweile hatten sie den Wald verlassen und fuhren auf einer gewöhnlichen Asphaltstraße durch ein Dorf.
„Bei der nächsten Gelegenheit müssen Sie nach rechts“, sagte der Alte. Es klang so sachlich, als habe er ihren Wortwechsel bereits vergessen.
Im Industriegebiet, in dem der Supermarkt lag, herrschte reger Verkehr. Während sie einen Parkplatz suchte, ertappte sie sich dabei, dass sie auf ein Wort des Bedauerns wartete. Der Alte musste doch sehen, dass diese Einkaufsfahrt ihr eine Menge Unannehmlichkeiten bereitete. Stattdessen sagte er:
„Holen Sie den Wagen. Ich bleibe so lange noch sitzen.“ Beim Aussteigen brauchte er ihre Hilfe, weil er nicht allein aus dem tief liegenden Autositz hoch kam. Sobald er stand, schüttelte er ihre Hände ab, packte den Haltegriff des Einkaufswagens und stützte sich darauf.
„Ich schiebe.“
Als sie die gläserne Schiebetür passiert hatten, wurde ihr sofort klar, dass sie Supermärkte immer noch hasste. Die Waren reihten sich in den Regalen aneinander wie feindliche Phalanxen, die bei ihrem Nähertreten zum Angriff übergehen würden. Ihr schwindelte. Gewöhnlich zog sie es vor, in kleineren Läden einzukaufen. Der Alte war keine Hilfe. Auf den Griff des Einkaufswagens gestützt, stand er ebenso unschlüssig zwischen den Regalen wie sie selbst, während sein Blick suchend umherirrte. Offenkundig hatte er seine Frau nie hierher begleitet. Oder der Alkohol begann bereits, seinen Verstand zu zerstören.
„Was brauchen Sie?“, fragte sie schließlich.
„Alles Nötige.“
Es dauerte fast eine Stunde, bis sie die Lebensmittel zusammengesucht und sich bei jedem einzelnen rückversichert hatte, dass es zum Nötigen gehörte. Vor den Kassen standen lange Schlangen. Als sie endlich mit dem Bezahlen an der Reihe waren, durchsuchte der Alte mit fahrigen Bewegungen beide Hosentaschen. Die Kassiererin musterte ihn mit einem misstrauischen Blick und griff schon nach dem Lautsprechgerät neben der Kasse. Da sah er Edith mit einem schiefen Lächeln an:
„Übernehmen Sie mal ruhig das Bezahlen. Sie stehen ja ohnehin noch wegen des Weins bei mir in der Kreide.“
Gut, dass er wieder Vorräte hat. Ohne Essen merkt er erst richtig, wie alt er geworden ist. Wenn man morgens zittert, wenn man kaum noch aufstehen kann vor Schwindel, ist man ein Greis. Ein greiser Herkules. Jede Scheibe Brot sagt Herkules den Kampf an, schiebt die Vergreisung ein bisschen hinaus. Sobald die Frau weg ist, legt er den ganzen Laib auf den Tisch, mitten in die Sonne, und schneidet Scheibe für Scheibe ab, ohne zu zählen, bis er satt ist. Trotzdem muss er vorsichtig sein. Im Duft des Brotes lauern Betrug und Verrat. Die Frau will ihm helfen . Und er muss es zulassen. Sie soll nicht glauben, ihm entgeht, wie sie ihn ansieht. Mit diesem lauernden Blick. Als warte sie auf etwas. Darauf, dass er wieder vor ihren Augen stürzt. Dass er wieder „Bitte“ und „Danke“ sagen muss. Da kann sie in Zukunft lange warten. Wenn sie wenigstens nicht dieses Tuch trüge. Frauen, die ihr Haar verstecken, sind verschlagen. Sie halten dich kurz und weiden sich daran, deine ohnmächtige Gier anzustacheln. Daran, dass du nicht an sie heran kommst. Deshalb musst du schwach bleiben. Deshalb nennen sie dich Herkules, während ihr Blick auf deinen Sturz lauert. Du sollst ständig hören, ständig vor Augen haben, was du nicht bist. Der Name ist Teil des Spiels. Genauso wie das Verstecken der Haare.
Grete hatte Zöpfe, als er sie zum ersten Mal sah. Plötzlich stand sie vor ihm. Knetete das Kaffeepäckchen, das sie trug, so fest mit ihren Fingern, dass die Verpackung knisterte und die Bohnen das Papier ausbeulten. Sie würde ein Loch hineinfummeln, wenn sie so weiter machte. Er legte seine Hand auf ihre unruhigen Finger. Sie bewegten sich gegen seine Handfläche wie aufgescheuchte Insekten. Sie merkte nichts davon. Ihr Blick kehrte aus einer gestaltlosen Ferne zurück und heftete sich erschrocken in sein Gesicht, als sei ihr erst durch die Berührung aufgegangen, dass er vor ihr stand. Die dicken Brillengläser vergrößerten den Ausdruck des Erschreckens in ihren Augen wie eine Lupe. Ein solcher Blick würde ihn niemals belauern und verspotten.
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