Minutenlang lag er nun so da. Die quälende Ungewissheit plagte den Wärter. Was wurde hier gespielt? Er versuchte sich daran zu erinnern, ob er schon einmal von so etwas gelesen hatte. Lediglich die alten Wild-West-Geschichten, mit Indianern und Eisenbahnüberfällen kamen ihm in den Sinn. Doch diese Zeiten waren längst vorbei. Was könnte der Mann für ein Motiv haben, einen Zug anzuhalten, der bis oben hin mit Asche und Hochofenschlacke beladen war?
Weder bei ihm selbst, noch auf dem Zug befanden sich irgendwelche nennenswerten Wertgegenstände. Vielleicht war auf den Zug ohne sein Wissen etwas aufgeladen worden? Drogen vielleicht, die auf diese Weise schnell und ohne jegliche Kontrolle quer durch das Land geschafft werden konnten. Die Gefahr in der er schwebte und die Schmerzen, die er empfand, wichen allmählich der Frage, was das alles sollte. Er könnte den Mann ja fragen, was er wollte. Doch dieser würde unter Umständen eine Waffe ziehen und ihn auf sein albernes Gefrage hin erschießen.
Zwar hatte er bei dem Übergriff keine gesehen, doch es war davon auszugehen, dass dieser mit einem Revolver, oder etwas in der Art bewaffnet war. Zu unberechenbar war die Situation und so hielt er klugerweise den Mund. Die Minuten verstrichen und zu dem pochenden Finger kamen Regentropfen, die auf das Dach und die Fensterscheiben fielen. Im Dunkel der Nacht näherte sich nach etwa 8
Minuten ein großes Auto dem Bahnübergang. Ein kurzes Hupen ertönte daraufhin. Damit war offensichtlich, dass dieser Gangster nicht allein war, und dass der Überfall wohl nichts mit dem Schrankenwärter zu tun hatte. Richard Schmidt war lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Sogleich wurde das Schranken-Warn-Signal eingeschaltet. Die Signalglocke schlug und die roten Warnlichter des Andreaskreuzes blinkten auf. Der Wagen hielt an der noch offenen Schranke an. Hastig schaltete der Gangster das Signal ab, welches der Bahnbeamte zuvor gezwungen worden war, einzuschalten.
Voller Ungeduld wartete der Lokführer Barrack McAffey darauf, endlich losfahren zu können. Sie waren schon drei Minuten im Verzug. Die Einhaltung der Fahrpläne war höchste Pflicht. Dem war alles andere unterzuordnen. Aber die jungen Burschen von heute schienen das - zu seinem Ärger - weniger eng zu sehen. Erst als der Schaffnerwagon fertig angekoppelt war, ertönte die vertraute Trillerpfeife seines Heizers Jonny Walther, einmal lang und einmal kurz.
Das Zeichen, dass alles zur Abfahrt bereit war. Als dieser auf dem Führerstand ankam, war McAffey schon ungeduldig dabei, Kohle in den Kessel zu schaufeln.
„Warum mache ich deine Arbeit? Hier, nimm die Schaufel!“
Bald war der Druck im Dampfkessel hoch genug und der Zug rollte an. Die Kraft des Dampfes wurde auf die Triebräder übertragen, die Lok brachte ihre 6500 PS auf die Schiene.
Das rote Signal, welches den wütenden Lokführer abermals zum Halten zwang, war zwar ärgerlich, aber nicht ungewöhnlich. Deshalb wartete McAffey ab, während Walther unablässig Kohlebriketts in den glühend heißen Kessel schaufelte. Fast zehn Minuten waren vergangen und der Kessel hatte schon den Bereich des Überdrucks erreicht, als das Haltesignal endlich erlosch und die Fahrt fortgesetzt werden konnte. Rasch beschleunigte der mit Industrieabfall beladene Zug. Die Räder drehten erst durch, doch schnell gewannen sie an Fahrt. Insgesamt hingen sie jetzt schon eine viertel Stunde im Fahrplan hinterher, darum peitschte der Lokführer den Zug mit Hilfe des Überdrucks nach vorn, ohne, wie es eigentlich Vorschrift gewesen wäre, etwas davon abzulassen. So hatte er fast 70 Meilen erreicht, als er sich dem ersten Bahnübergang näherte.
Das Rattern des herannahenden Zuges war zu hören und das vertraute Geräusch des Zughorns hallte durch die Nacht. Es standen jetzt zwei Autos an der noch immer nicht geschlossenen Schranke. Langsam dämmerte es Richard Schmidt, was sich hier gerade ereignete. Mit fassungslosem Entsetzen setzte er sich aufrecht hin und reckte den Hals. So erspähte er jene entscheidenden Sekunden. Der Gangster schaute ebenfalls gebannt nach draußen. Jetzt konnte man den Zug sehen und auch sein Komplize im hinteren der beiden wartenden Autos bemerkte ihn. Mit jaulendem Motor fuhr er auf den vor ihm stehenden Wagen auf und schob ihn auf die Gleise, direkt vor den Zug. Mit 70 Meilen rammte die Lok den Wagen von der Straße. Funken flogen. Der hunderte Tonnen schwere Zug ließ kaum ein paar Trümmer von dem Auto übrig und riss Teile davon mehrere hundert Meter weit mit sich. Die Insassen hatten keine Chance und waren auf der Stelle tot. So schnell wie die Lok in das Auto gerauscht war, so schnell war auch der Gangster aus dem Schrankenhäuschen verschwunden.

Es war genau 4 Uhr und 56 Minuten, als am 18. Juli 1939 die ersten Sonnenstrahlen die Spitze des Leuchtturms der Stadt Tryonee Harbour berührten. Der Himmel bot alle nur denkbaren Farbfacetten auf. Während er in Richtung Osten zum Meer hin rot-orange war, zeigte er in Richtung Stadt bläuliche Töne, die weiter westwärts die weichende Nacht noch erahnen ließen. Die Wellen des Atlantiks brandeten gegen die Steilküste, auf der der blendend weiße Leuchtturm stand. Der alte Leuchtturmwärter stieß die Tür zur Aussichtsplattform auf und richtete einen aufmerksamen Blick über die See. Dutzende Fischerboote liefen nach der stürmischen Nacht den Hafen an. Nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte, suchte er mit seinem Fernglas die Umgebung speziell um den Hafen nach Ungewöhnlichkeiten ab. Ein Hurrikan hatte die Stadt in den Abendstunden des vorigen Tages getroffen. Die See war zwar noch aufgewühlt, aber die erwartete Sturmflut blieb aus. Der Himmel war klar, die Sicht gut und die Stadt unversehrt. Die „Normandie“ konnte also an diesem Tag wie geplant nach Osten in Richtung Europa auslaufen. Seit Jahren stellte der französische Luxusliner immer neue Geschwindigkeitsrekorde auf der Atlantikroute auf. Diese wurden dann immer wieder von der englischen „Queen Mary“ unterboten. Es ging um das blaue Band, um nationales Prestige, das schnellste Schiff der Welt zu haben, und um viel Geld.
Soweit war alles in Ordnung. Kein Rauch, den der Wärter hätte melden müssen, kein in Seenot geratenes Schiff. Mit einem kurzen Nicken begab sich der bärtige Mann wieder in die unteren Etagen des Turmes, die er allein bewohnte.
Langsam stieg die Sonne höher und erreichte die Straßenzüge der noch leeren Stadt. Briefträger und Müllabfuhr arbeiteten bereits. Hier und da verließ so mancher Frühaufsteher sein Haus. Straßenkehrer gingen ihrer Arbeit nach und das eine oder andere Auto erfüllte die leeren Straßen mit lautem Motorengeräusch und einer blauen Abgaswolke. Als die Kirchenglocken des Stadtteils Wellington 6:00Uhr schlugen, erwachte das Leben in der Stadt. Binnen fünf Minuten schienen nahezu alle Bewohner auf den Beinen zu sein. Arbeiter verließen in Scharen ihre Wohnungen um in das Works – Quarter zu gelangen. Dort standen Fabriken, die alles nur Denkbare produzierten: Autos, Werkzeuge, Generatoren, elektrische Geräte, Kleidung und vieles mehr. Allein hier waren über 2,5
Millionen Menschen beschäftigt. Ein 4-spuriger Highway trennte das riesige Arbeiterviertel in die Schwerindustrie im Norden, die Textil-und Chemieindustrie im Süden. Dieser Highway führte an seinem östlichen Ende über eine gigantische Stahlbogenbrücke direkt auf die Hafeninsel. Die Hafenarbeitergewerkschaft war nach der Atlantic-Railroad-Company der zweitgrößte Arbeitgeber der Stadt. Ruhig lag der französische Super – Liner am östlichen Dockende des Hafeneilandes und wartete darauf, aufs offene Meer geschleppt zu werden. Für ein derart großes Schiff waren drei Schlepper nötig.
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