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„Hallo, Meike“, sagte er.
Sie hatte wieder versucht, sich anzuschleichen, und hatte abgewartet, bis es ihrer Meinung nach dunkel genug dafür war. Heute hätte sie in der Tat gute Chancen gehabt, Jan zu überraschen, denn er war in sich versunken. Ihre leisen Schritte mit bloßen Füßen auf den Steinplatten der Terrasse hatte er nicht gehört. Es gab auch keine Veränderung der Lichtverhältnisse, kein Schatten, der ihm hätte auffallen können. Meike war sanft und leise wie immer, eine Katze, die sich an ihr Opfer heranpirschte. Und doch war ihm ihr Auftauchen nicht entgangen.
Er spürte sie, sobald sie die Terrasse betreten hatte.
Schon vor Jahren, gleich nach ihrem Einzug, hatte er ihr gesagt, dass es keinen Sinn hatte zu versuchen, ihn zu überraschen. Er würde sie immer bemerken, ehe sie über ihn herfallen und ihn ermorden konnte – oder was auch immer Schwestern sonst mit einem machten, wenn sie sich anzuschleichen versuchten. Jan hatte eine Gabe, eine Art sechsten Sinn: Er nahm seine Umgebung auch dann wahr, wenn er sie nicht sah. Er spürte sie. Auch seine Mutter hatte diese Gabe besessen. Alles hing mit allem zusammen.
Er spürte die Mauern des Hauses in etwa fünf Metern Entfernung, spürte die Fugen zwischen den Natursteinplatten der Terrasse und die feinen Unebenheiten ihrer Oberfläche, er spürte jedes leise Kräuseln des Wassers im Pool, wenn ein leichter Wind darüber hinweg strich, jeden Grashalm des Rasens, der den Pool umgab, und viele kleine und große Käfer und andere Insekten, die durchs Gras krochen. Er spürte die Nachtfalter in der Luft und die Fledermaus, die sie sich schnappte, und am Rand seines Wahrnehmungsbereichs spürte er die Blätter und Blüten der Hibiskushecke, die den Poolbereich zum unteren Teil des Gartens abgrenzte. Und das alles, ohne hinzusehen. Vieles von dem, was er wahrnahm, wäre für das Auge nicht zu erkennen gewesen. Was Jan spürte , ließ sich mit einer dreidimensionalen Karte seiner Umgebung vergleichen oder mit einem Hologramm, das nur in seinem Kopf existierte.
Er wusste nicht, wie das funktionierte, und er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich diese Frage zu stellen. Es war nie anders gewesen, schon als Kind hätte er sich dank dieser Gabe selbst ohne Augenlicht in der Welt zurechtgefunden. Seine Mutter hatte auf die Anzeichen geachtet und daher früh erkannt, dass er die Gabe besaß. Sie hatte ihm klargemacht, dass es etwas Besonderes war, die Welt auf diese Weise spüren zu können, und dass man es besser für sich behielt.
„Meike, du kannst aufhören“, sagte Jan. „Ich weiß genau, wo du bist.“
„Aber das ist ungerecht!“, empörte sich Meike. „Wie konntest du das wissen? Wieder einmal deine besondere Gabe?“
Sie wartete seine Reaktion nicht ab, hüpfte an ihm vorbei und tauchte in das Wasser des Pools ein. Sie war nackt, so wie auch Jan, und auch das hatte er schon gespürt .
Er war komplett in Meike vernarrt. Schon immer gewesen. Sonst hätte er sie damals, als sie plötzlich vor seiner Tür hier auf dem Pilion stand, nicht einfach einziehen lassen. In Deutschland war für sie damals alles zu Ende gewesen. Freund weg – deutsche Männer waren sowieso „scheiße“, wie Meike es ausdrückte. Job weg – auf berufliche Qualifikation hatte Meike es noch nie angelegt, sie hatte mit Mühe Abitur gemacht und dann eine Ausbildung als Verlagskauffrau abgeschlossen. Für eine mögliche Karriere hatte sie einfach nicht den nötigen Biss. Darum hatte sie sich auch nie um einen Job in einer der Metzner-Firmen gerissen. Die Firmen wurden gut geführt – warum sollte sie den Managern ins Werk pfuschen? Sie wollte lieber leben, im Augenblick, im Jetzt. Das hatte sie mit Jan gemein. Aber inzwischen waren die Bedingungen in Deutschland so schlecht, dass es kaum noch möglich war, einfach nur zu leben, und sie wurden immer schlechter.
Was Meike angeboten worden war, nachdem sie sich arbeitslos gemeldet hatte, spottete jeder Vernunft und auch ihrer Qualifikation. Mit etwas wohlwollender Phantasie konnten diese Jobs vielleicht als Niedriglohnjobs gelten. Schließlich hatte Meike nur noch die Wahl, es eben doch in einer der Metzner-Firmen zu versuchen oder in derselben Tretmühle zu landen, in der sich schon ein Viertel aller Deutschen befand, deren Leben aus nichts als Arbeit am Rande des Existenzminimums bestand.
Doch Meike war das Kind derselben Eltern, die auch Jan gezeugt hatten, und das bedeutete, dass sie einen eigenen Kopf hatte, der es nicht akzeptierte, vor Aufgaben gestellt zu werden, zu deren Lösung ihr ausschließlich unattraktive Optionen angeboten wurden. Und tatsächlich fand Meike eine dritte Option, die sie kurzentschlossen wahrnahm: Sie kehrte Deutschland den Rücken. Die Lust auf Kämpfen und Durchbeißen hatte sie verlassen. Sie hatte Ellenbogen, aber die brauchte sie für Anderes. Das ererbte Geld rührte sie trotzdem nicht an. Es lag ohnehin zum größten Teil in Fonds und Anleihen oder steckte direkt in Unternehmen, die den Metzners gehörten. Nein, den Flug nach Griechenland zu ihrem Bruder hatte sie vom eigenen Ersparten bezahlt. Seitdem lebten sie hier auf fast symbiotische Weise zusammen. Sie machte die Buchhaltung und kümmerte sich um den Papierkram, und Jan zahlte ihr ein Gehalt dafür, dass sie ihm die Bürokratie abnahm, so dass er konzentriert an seinen Mischungen arbeiten konnte.
Als Jan nach Griechenland gezogen war, hatte er noch keinen festen Plan gehabt, was er machen wollte. Hauptsache weg aus den USA und ihrem verrotteten gesellschaftlichen Klima, das sich nach all den Jahren des Kriegs gegen den Terror anfühlte wie in einer Wagenburg. Und auch weg von den „Antennen“. Es gab diese Villa hier auf dem Pilion, die seine Eltern gebaut hatten, etwas abseits in einer herrlichen Landschaft gelegen; also war er hierher geflüchtet. Auf seinen ersten Streifzügen durch die Umgebung stach ihm sofort die Vielfalt der Aromen in die Nase. Auf dem Pilion wuchsen mehr Kräuterarten als sonst irgendwo in Griechenland. Er begann, sich mit ihnen zu beschäftigen, fand heraus, dass viele von ihnen einst in der griechischen Volksmedizin angewendet worden waren und dass sie nicht nur ganz ausgezeichnet zur Lammkeule passten, sondern dass sie auch pharmazeutisch wirksam waren. Ihre ätherischen Öle wirkten entzündungshemmend und desinfizierend. Manche Kräuter warteten mit pflanzlichen Antibiotika auf, und es gab sogar welche, die auf die Psyche wirkten und Glücksgefühle hervorriefen. Jan dachte sofort an die wachsende Zahl von Menschen in Europa, die an Depressionen litten, und so zeichneten sich erste Umrisse einer Unternehmensidee ab.
Doch dabei blieb es nicht. Jan hatte Berichte über eine alte Frau gehört, die in einem Dorf im Süden des Pilion abgöttisch verehrt wurde, weil sie mit ihren Kräutern, so hieß es, jede Krankheit heilen konnte. Er schaffte es, ihre Bekanntschaft zu machen, und tatsächlich vollbrachte sie Erstaunliches. Sie heilte nicht nur Durchfälle und Husten und befreite von Warzen, sondern sie behandelte auch erfolgreich schwere Infektionen wie Lungenentzündungen, und wenn Jan sich nicht täuschte, blieb sie sogar im Kampf gegen Malaria siegreich – und das war wirklich außergewöhnlich! Gegen Malaria gab es weltweit noch immer kein wirksames Gegenmittel. Doch die Krankheit war auf dem Vormarsch, auch nach Südeuropa war sie wieder zurückgekehrt.
Die alte Frau kannte ein Kraut. Sie wusste nicht, wie der exakte botanische Name war, ebenso wenig wie sie die Namen der Krankheiten kannte, die sie behandelte; sie hätte niemals eine klare medizinische Diagnose stellen können. Das Kraut ließ sie Jan nur einmal kurz sehen, aber dieser Augenblick genügte ihm, um es gründlich genug zu spüren . Die behaarten, verkrüppelt wirkenden Stängel, die kleinen Blätter, der niedrige Wuchs – er prägte sich die Wahrnehmung genau ein, unternahm in den folgenden Tagen einige Wanderungen im Süden des Pilion und erspürte schließlich, was er suchte. Fortan wuchsen einige Exemplare des Malariakrauts frei in seinem Garten.
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