Wenn er zu Hause in das Kaufland ging fühlte er sich an der Kasse stets getrieben. Hektisch stapelte er die Waren auf das Transportband und hinter ihm drängelte schon der Nächste (meist ein Rentner) der ihm auch noch den Einkaufwagen in die Kniekehlen rammte, weil er selbstredend in Eile war. Wenn die Kassierer die Eierverpackungen öffneten fühlte er sich jedes Mal unwohl, möglicherweise hätte ein Witzbold, während er selbst in den Regalen nach anderen Waren suchte, irgendetwas heimlich hineingetan, was ihn an der Kasse dann als Ladendieb überführen würde. Alle Blicke wären auf ihn gerichtet weil der Kassierer (ein Student) mit erhobener Stimme sagen würde: „Hoppla, was haben wir denn da?“.
Egal was in der Verpackung drin sein sollte, es musste klein sein, denn viel Platz blieb nicht zwischen den Eiern und einen potentiellen Diebesgegenstand machte er in Kassennähe aus: Kondome. Natürlich war es sehr unwahrscheinlich, dass ihm jemand in der Nähe der Kasse die Dinger in die Eierverpackung schmuggelte aber der Gedanke setzte sich in seinem Kopf fest, so als hätte sich eine Bulldoge in seinem Bein verbissen und jedes Mal standen Schweißtropfen auf seiner Stirn, wenn die Verpackung sich auf dem Band dem Kassierer näherte. Der Student würde ihn höhnisch ansehen und dann laut sagen „Na das ist ja interessant!“. Jedenfalls wäre er bis auf die Knochen blamiert, die Polizei würde ihn noch im Kassenbereich verhaften und in Handschellen an den gaffenden Massen vorbeiführen. Wenn er die Kasse endlich ohne Zwischenfall passiert hatte konnte er wieder klar denken.
Damit war er auch den Rentnern entkommen, die den Supermarkt vorzugsweise am Freitagnachmittag, wenn die sogenannten Berufstätigen einkaufen gingen, in Massen bevölkerten. Wenn sie ihn nur bevölkern würden wäre das okay, aber sie hatten die Angewohnheit in Trauben herumzustehen und zu kommunizieren. Auch dagegen war nichts einzuwenden; wenn diese Veranstaltungen in einer Ecke stattfanden wo man beispielsweise Kuchenglasur kaufen konnte ging das völlig in Ordnung, aber die rüstigen und austauschfreudigen Senioren führten ihre Gespräche vorzugsweise dort, wo die Hauptverkehrswege verliefen. Klar, man konnte schlecht Hinweisschilder aufhängen wie „Rentner, haltet die Gänge frei“, „Rentner, zum Quatschen in die Ecken“ oder „Rentner, geht gefälligst vormittags einkaufen“. Das wäre so, als würde man den gesprächswilligen Ruheständlern ein farbiges Warnschild ankleben (über diesen Gedanken erschrak der Mann , political correctness sah in Deutschland sicher ganz anders aus).
Jedenfalls brachten ihm diese Beobachtungen die Erkenntnis, dass die Marketingleute der Märkte wahrscheinlich vor der Platzierung der Waren Peergroups (durch gleiche Interessen verbundene Personengruppen) von Rentnern in die noch leeren Hallen schickten, die dort nicht das peer learning oder ähnliches praktizierten, sondern das peer standing about and talking (auf diesen Begriff war der Mann stolz. Herumstehen und quatschen als gemeinsame Interessenlage). Man würde diese peergroups noch nach Alter und Mobilität (und damit auch nach dem Grad der Ersatzteilversorgung mit künstlichen Knien, Hüftgelenken und ähnlichem) staffeln und per Videoüberwachung feststellen, wo sich die Oldtimer vorzugsweise zum Gedankenaustausch versammelten. Bei einer entsprechenden Anzahl von Versuchspersonen konnte man danach mühelos die Hauptverkehrswege ermitteln, nämlich dort, wo sich die entspannten Pensionäre zum Disput trafen. Und genau dorthin würden diese Marketingärsche die Waren platzieren, die am meisten nachgefragt wurden.
So etwas gab es in Frankreich kaum (diese Ansammlungen von Rentnern), dafür waren die Kassenbereiche der Ort der Kommunikation (zwischen Kassierern und Käufern, oder zwischen mehreren Käufern) und der Entschleunigung . Hier wagte der Mann gleich gar nicht Eier zu kaufen, zu den bereits erwähnten Gefährdungen käme noch dazu, dass er Ausländer war und da er absolut nicht auffallen wollte behielt er auch die Ruhe, wenn es an der Kasse wieder einmal etwas länger dauerte, was hier der Regelfall war. Im Gegensatz zu den gehetzten deutschen Konsumenten, die ihre Waren hektisch auf das Transportband warfen und dann im Akkord in den Einkaufwagen luden (weil wieder einmal ein Rentner hinter ihnen drängelte), gingen die Einheimischen hier wesentlich ruhiger zu Werke. Man beobachtete zunächst eine Weile interessiert das Tun der Kassierer. Nachdem das Transportband schon etliche Produkte in Richtung Einkaufwagen bewegt hatte schien bei den Käufern die Erkenntnis zu reifen, dass diese eigentlich noch in den Wagen zu transportieren waren. Mit wohl abgewogenen Handgriffen erfolgte ein vorsichtiges Einsortieren denn in Frankreich schienen die Verpackungen weniger solide als in Deutschland zu sein (was aber nicht stimmte). Manchmal entspann sich noch ein Disput zwischen den gemeinsam einkaufenden Männern und Frauen, so dass der Warenstrom in den Einkaufswagen mehr oder weniger lange unterbrochen wurde, also der technologische Prozess des Einkaufens gänzlich zum Erliegen kam. Das focht indessen niemand sonderlich an, man schaute sich entweder an was an der Kasse gerade passierte, unterhielt sich, oder vertrieb sich die Zeit nach Gusto.
Der nächste Akt sollte sich ebenso aufwendig wie die vorherigen gestalten: das Bezahlen. Wie der Mann registrierte gab es drei Arten seinen Einkaufsbetrag zu begleichen: die Barzahlung, die Kartenzahlung und die Scheckzahlung (jetzt fühlte er sich wie ein BWL-Student im Auslandspraktikum). Verständlicherweise war die Barzahlung die Einfachste, nur: plötzlich schienen Portemonnaies vakant zu sein, die sich nach bedächtiger Suche doch noch anfanden und auch das Einsortieren des Wechselgeldes brauchte Gewissenhaftigkeit. Wer die Karte benutzte trat an das Lesegerät, man war relativ schnell fertig. Aufwendiger gestaltete sich die Zahlung per Scheck. Dieser musste von dem Konsumenten aus dem entsprechenden Heft herausgetrennt werden, der Kassierer schob ihn in ein Gerät in welchem er beschriftet wurde, dann ging er an seinen Besitzer zurück.
Jetzt stellte sich heraus, zu welcher Gruppe der Käufer zählte: die Vertrauensseeligen, die Misstrauischen, die Krümelkacker. Die Vertrauensseeligen unterschrieben nach einem kurzen Blick auf den Rechnungsbetrag (Technikgläubige, die Maschine würde schon keinen Fehler machen). Die Misstrauischen unterzogen den beschrifteten Scheck einer gründlichen Kontrolle (auch eine Maschine konnte Fehler machen) und die Krümelkacker überschlugen die Summe der Einzelposten auf dem Kassenzettel, verglichen mit dem Scheckbetrag und trugen sowohl das Datum als auch den Betrag säuberlich an dem im Scheckheft verbliebenen Falz ein (Technik kann man nicht trauen, siehe Fukushima). Im Einzelfall, je nach Füllstand des Einkaufswagens und der Einordnung des Käufers in eine Gruppe, konnte die Abfertigung eines Kunden an der Kasse schon bis zu zehn Minuten betragen und der Mann zog vor den geduldigen Franzosen den Hut, denn keiner brüllte rum, dass er schon eine viertel Stunde rumstehen musste und verlangte nach dem Geschäftsführer oder ähnliches. Nein, diese Leute waren die Ruhe selbst und wenn sie sich mit einem freundlichen Wort lächelnd vom Kassierer verabschiedeten war es so, als würden sie einem guten Freund auf Wiedersehen sagen und sich schon auf die nächste Begegnung freuen.
Die Frau hatte alles vorbereitet: das Zelt war verspannt, alle Sachen eingeräumt, Tisch und Stühle aufgebaut und der Mann sank auf einen von ihnen, nachdem er sich ein kaltes Bier aus der Kühlbox genommen hatte. Da er einen Aschenbecher benötigte war er gezwungen (so sein Argument der Frau gegenüber) das erste Bier recht schnell auszutrinken. Er war froh, dass er ein „Bavaria“ erwischt hatte (mit nur 8 auf der Dose), das Maximator hätte ihn heute vom Stuhl geblasen aber auch dieses hier zeigte Wirkung, er fühlte sich entspannt und da sie nun endgültig angekommen waren schien ihm auch die schnelle Folge der Biere angemessen.
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