Konrad hielt sich nicht länger zurück. Er trat eine schnellen Schritt auf den Tod zu und hieb mit der ganzen Kraft seiner waffengeübten Hand gegen den unscheinbaren Knochenarm. Der Schwertstahl jammerte laut, als er auf das Gebein traf. Knirschend barst er auseinander, und seine vordere Hälfte fuhr splitternd zu Boden und bohrte sich in den Sand.
„Alle Wetter! Kein schlechter Schlag", erkannte der Tod nicht ohne Bewunderung, doch auch amüsiert an.
Konrad schwieg und blickte ratlos vom Stumpf seines Schwertes zu dessen abgebrochener, in den Boden gebohrten vorderen Hälfte.
„Du hast nur Glück gehabt", erklärte der Tod sachlich. „Siehst du das ein? Ich wollte ein bisschen Vergnügen haben, dich zappeln sehen, bevor ich dich schnappte, zappeln wie einen Fisch an der Angel. Dass es Fische gibt, die schneller sind als der Fischer, selbst als ich... das war nicht zu erwarten. Ich habe dazugelernt."
Der Tod bückte sich zu der abgebrochenen Schwertspitze bei seinen Füßen und zog sie aus dem Sand. Er drehte das Metallstück hin und her, wog es begutachtend in der Hand und ließ die Sonne blitzend darüberlaufen. Dann fasste er nach dem Schwertstumpf in der Rechten Konrads, zog ihn an sich - Konrad ließ ihm das unbrauchbare Fragment - prüfte die beiden Bruchstücke, passte sie aneinander, strich mit seinen dürren Klauen rechts und links über die Bruchstelle, und unversehens, als tauche sie frischgehämmert aus dem Wasserbad eines Schmiedes, glänzte die Klinge unversehrt und in einem Stück, so, als sei sie niemals auseinandergesprungen gewesen. Das wiederhergestellte Stück reichte der Knochenmann seinem Eigentümer zurück.
„Ein Mann braucht seine Waffe", meinte er lakonisch und wieder mit spöttischem Unterton dazu, „selbst wenn er unsterblich ist".
Konrad nahm das Schwert an sich und fuhr es mit dem Finger prüfend ab. Der Stahl war makellos und, wie Konrad schien, schärfer als zuvor.
„Als menschlicher Krieger wollte ich dir nicht im Kampf begegnen", gestand der Tod. Er fügte diesem Kompliment ein weiteres hinzu. „Du wirst dem Tod ein guter Diener sein".
Konrad wusste nicht recht, wie er das nehmen sollte. Statt zu antworten, schob er sein Schwert in die Scheide.
Der Tod wendete sich ab und stapfte auf den Glasberg zu. Er winkte Konrad, ihm zu folgen. Mit seiner Knochenhand schob er die festgeschlossenen, harten Panzerplatten des Glasberges auseinander wie einen Vorhang.
„Sieh dir das an!"
Konrad folgte der Einladung des unheimlichen Gesellen unsicher und zögernd. Obwohl ihm der Tod sein Schwert zurückgegeben hatte, drängte es ihn immer noch, Vorsicht zu üben.
Der Tod bemerkte das Misstrauen.
„Du brauchst keine Befürchtungen vor mir zu hegen", versuchte er Konrads geheime Vorbehalte auszuräumen. „Meine Macht über dich ist leider dahin. Ich werde dir nichts antun, weil ich es nicht mehr vermag. Mein Wort!"
Konrad trat darauf in die torgroße, dunkelgähnende Öffnung, die der Knochenmann in der Bergflanke aufgeschoben hatte.
„Das ist mein Haus", erläuterte der Tod den Anblick, der sich hier öffnete. „Der Berg des Lebens beherbergt die Höhle des Todes. Leben und Tod an einem Ort. Wie könnte es anders sein".
Am Gerippe des Todes vorbei konnte Konrad in einen ungeheueren Raum blicken in welchem bis in die entferntesten, unauslotbaren Tiefen der Höhle und der Dunkelheit Lichter schimmerten.
„Die Lebenslichter", erklärte der Tod das Bild nüchtern.
Das strahlte und funkelte gleich Edelsteinen in einer endlosen Schatztruhe.
„Hier siehst du die Lichter der Alten", setzte der Tod seinen Kommentar fort, indem er auf eine Reihe niedergebrannter Kerzen wies. „Dort hast du die Lichter der Jungen."
Diese Lichter waren noch kaum heruntergekürzt.
„Sieh da!" der Tod wies auf eine Kerze in unmittelbarer Nähe hin, die unruhig auf und niederzuckte und flackernd rußte. „Da geht einer mit seinem Lebensstoff sehr verschwenderisch um. Ein Mann. Er wird nicht alt werden. Die Frau an seiner Seite wird ihn lange überleben." Die Kerze daneben brannte ruhig und sparsam, fast ganz ohne Flammenunruhe.
Der Tod tat ein paar kurze Schritte in das Innere der Höhle und beugte sich, ganz wie ein Gärtner über seine Blumen, zu einer Kerze hin, deren winziges Flämmchen noch schwach zappelte und blau wurde, als mache sich in ihm Frost breit.
„Hier stirbt einer", meinte der Tod gleichmütig dazu.
Und aus war das Licht.
Mit einer geübten Bewegung spellte der Tod das übriggebliebene Kerzenstümpfchen vom Untergrund los und kratzte mit scharfem Fingernagel die letzten Reste Wachs vom Boden.
„Ich muss Platz schaffen", erläuterte er seinem Zuschauer.
„Wo steht mein Licht?" Konrad, der bislang alles aufmerksam betrachtet und den Worten des Todes schweigend zugehört hatte, meldete gezieltes Interesse an.
Der Tod hob lauernd den Kopf.
„Warum fragst du?" gab er die Frage zurück, als müsse er sich vor jeglicher Beantwortung erst Klarheit über die Absicht des Fragestellers verschaffen.
Konrad fasste das Zögern des Todes richtig auf. „Ist es so unverständlich, dass ich mein Licht sehen möchte, wenn ich schon einmal hier bin?" erwiderte er.
Der Tod ging nicht darauf ein. Mit knöchernem Arm wies er in den fernen, dunklen, unauslotbaren Hintergrund. „Dort hinten steht es", antwortete er, „sehr weit."
Konrad wendete den Blick in die angegebene Richtung.
„Kann man es von hier sehen?" wollte er wissen.
„Kaum", beschied der Knochenmann und wandte sich wieder dem Kerzenrest auf dem Boden zu, als sei ihm die Fragerei lästig. „Selbst wenn dein Licht in Sichtweite stünde, du könntest es von den vielen anderen Lichtern nicht unterscheiden".
Konrad ließ sich nicht so einfach abspeisen.
„Gehen wir hin", kam er zur Sache.
„Unmöglich!"
Der Tod fuhr aus der Hocke hoch, als habe ihn etwas gestochen.
„Das ist unmöglich", wiederholte er in abwehrendem, herrischem Ton, als müsse er eine ungehörige Anmaßung zurückweisen. „Kein Sterblicher darf die Höhle betreten! Niemals! Was glaubst du, wo wir uns befinden!"
„Ich habe vom Baum des Lebens gegessen", wagte Konrad einen gewichtigen Einwand. „Ich bin kein Sterblicher mehr".
Mit dieser Bemerkung schien Konrad irgendwie ein geheimes Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Unerwartet, als sei weitere Selbstbeherrschung nicht mehr möglich, als seien Groll und Zorn nicht länger kontrollierbar, ballte der Tod seine spinnenartigen Knochenhänden und schüttelte sie gegen Konrad. Dann rieb er knirschend die Zähne, als müsse er zwischen ihnen seine Ohnmacht zermalmen. Schrill entfuhr es ihm.
„Das ist es! Das ist es ja! Was glaubst du Wurm, was das bedeutet - ein Licht, das ewig brennt? Eine Kerze, die niemals verlöscht? Die ihren Platz nicht freigibt? Du willst den Lauf des Wassers aufhalten! Du willst dem Wind die Bewegung rauben! Du willst dem Sonnenwagen die Räder zerbrechen! Nichts kann kommen, nichts kann gehen! Du hast die Ordnung der Welt auf den Kopf gestellt. Und ich, dessen Amt es ist, das zu verhindern, ich habe versagt! Ich! Grauenvoll! Es ist grauenvoll!"
Wie von Sinnen schlug sich der Tod mit den Fäusten anklagend gegen die Brust; es klapperte und knatterte.
„Meine Schuld! Meine Schuld!"
Konrad, überrascht und verwirrt von soviel unerwartetem, hysterischem Gefühl, wich unwillkürlich vom geöffneten Glasberg zurück, jenem Instinkt folgend, der einem bei Gefahr rät, sich aus deren unmittelbaren Zone zu entfernen. Der Tod hopste ihm wie ein flügellahmer Vogel hinterher. Doch als übten das Sonnenlicht und die frische Luft eine ernüchternde Wirkung aus, verstummte sein schrilles Gezeter, sowie er den Fuß ins Freie gesetzt hatte. Mit einem letzten wütenden Schwung, so dass die Erde bebte und ein gewitterähnliches Donnergrollen die Luft erzittern machte, warf er den auseinanderklaffenden Glasberg zu. Dieser Kraftakt schien ihm die abschließende Erleichterung gebracht zu haben, denn gelassen und mit einem Mal wieder verbindlich, so als sei niemals etwas gewesen, wandte er sich dem rückwärts stolpernden Konrad zu.
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