„Was wäre das, deiner Meinung nach?" wollte Vladana wissen.
„Genau übersehe ich das selbst nicht", gestand der Onkel vorbeugend. „Auch ich kann nur Vermutungen anstellen. Ob sie richtig sind, wer weiß das. Auf jeden Fall, so denke ich, hast du den möglicherweise einzigen sinnvollen Weg zur Erklärung von Konrads Traum bereits entdeckt."
„Ja? Wirklich? Inwiefern?" Vladana konnte ihre Überraschung nicht verbergen. „Ich? Da bin ich aber neugierig!"
Sie schien auch Konrad aus dem Herzen gesprochen zu haben, denn die Spannung, mit welcher er an den Lippen des weitgereisten und erfahrenen Onkels hing, war nicht zu übersehen.
„Zwischen deinem Ammenmärchen und Konrads Traumgesicht", so begann der Onkel auszuführen, „muss nicht unbedingt ein Widerspruch bestehen. Es wäre denkbar, dass das, was Konrad unter der Einwirkung meines Trankes gesehen hat, wirklich nichts Anderes ist, als was uns die Sage vom gläsernen Berg von anderer Seite überliefert. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will, ich komme stets auf diesen Zusammenhang zurück. Nur diese Sage passt erkennbar mit der Erzählung Konrads zusammen. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass die Sage tatsächlich den Schlüssel zum Verständnis des Geträumten liefert. Was berichtet nun die Sage vom gläsernen Berg? Wie du dich gewiss zurückerinnern kannst, Vladana, heißt es, auf einer Insel, weit draußen auf dem Meer und mit dem Namen Andia, befinde sich ein Berg aus Glas. Dieser gläserne Berg solle bis in die Wolken ragen und steil und glatt wie ein Turm sein. Da hätten wir die erste Übereinstimmung mit Konrads Erzählung. Oben auf seinem Gipfel, so heißt es weiter, befinde sich inmitten einer ewig blühenden Wiese der Baum des Lebens. Dessen Früchte sollen goldenen Äpfeln gleichen. Auch das würde zusammenpassen, selbst wenn die Früchte in Konrads Traum von roter Farbe waren. Nun berichtet die Sage noch, auch daran wirst du dich erinnern, Vladana, wem es gelänge, diesen gläsernen Berg zu erklimmen - was allerdings ein Ding der Unmöglichkeit sein soll, da niemandes Fuß auf dem Glas Halt finden könne - wem also die Ersteigung dieses Berges gelänge und wem es zusätzlich ebenfalls gelänge, eine der Früchte vom Baum des Lebens zu erwerben - was ebenfalls unmöglich sein soll, da sich die goldenen Äpfel jedem Zugriff entzögen - wem aber auch dies gelänge, der werde durch den Genuss dieser Frucht den Tod für immer überwunden haben und niemals den unausweichlichen und bitteren Weg alles Lebendigen nehmen müssen."
„Jetzt geht mir ein Licht auf!" brach es begeistert aus Vladana hervor, nachdem Onkel Wodnik seine Deutung von Traum und Sage beendet hatte. Sie klatschte in die Hände, sprang von ihrem Sessel hoch, hüpfte und tanzte ausgelassen wie ein Kind durch das Gemach und küsste erst ihren Onkel und danach Konrad ab. „Ich beginne den Sinn zu ahnen. Onkel Wodnik hat ihn zutage gefördert. Onkel Wodnik, gibt es eigentlich etwas, was du nicht weißt?" Wieder überhäufte sie ihren Onkel so mit Gunstbeweisen, dass dieser ganz verlegen wurde.
„Du wirst auf die Insel Andia fliegen", wandte sich Vladana an ihren Gatten. „Du wirst eine Frucht vom Baum des Lebens essen, Konrad, und der Tod kann dir nichts mehr anhaben." Du wirst unsterblich, Liebster! Nichts und niemand wird uns jemals auseinanderreißen können. Immer werden wir zusammenbleiben. Ist das nicht wunderbar! Was für ein Tag, heute! Stell dir vor, wir werden ewig vereint sein. Stell dir das vor!"
Auch Konrad wurde wieder Ziel ihrer Liebkosungen.
Dann, als sich die erste Begeisterung gelegt und sich der Wellengang der stürmischen Gefühlsäußerungen geglättet hatte, erweiterte Vladana ihre Schlussfolgerungen bedeutend.
„Wenn du unsterblich bist, Konrad", folgerte sie scharfsinnig, „dann ist unser Ziel, die Herrschaft über die Welt, nicht mehr weit. Es rückt in greifbare Nähe. Denn wenn du unsterblich bist, Konrad, werden wir all das besitzen, was uns gefehlt hätte und was wir vor allem brauchten, wenn wir unsere Pläne verwirklichen wollten: Zeit! Zeit, jawohl! Und nochmals Zeit! Alles Andere, wenn wir nur genügend Zeit haben, fügt sich und findet sich von selbst. Wir werden alles in Ruhe überlegen und bedenken können, wir werden alle unsere Pläne ins Werk setzen können, und niemand wird unserem unendlich langen Atem widerstehen können. Das ist es. Jawohl! Das ist es. Ich wusste doch ,dass dein Dreinächtetraum nicht lügt. Niemand wollte mir das glauben, du nicht, Konrad, mein Vater nicht und du auch nicht, Onkel Wodnik. Aber ich war mir immer sicher, dass ich recht hatte und mich nicht irrte."
Konrad ließ sich vom überschwenglichen Optimismus seiner Frau keineswegs anstecken. Er meldete Bedenken an.
„Was Onkel Wodnik vorgetragen hat, liebe Vladana, sind Vermutungen", erinnerte er mit sachlicher Nüchternheit. „Du solltest sie nicht mit Tatsachen verwechseln."
„Ach ihr Männer!" wischte die Geliebte diesen Einwand kurzerhand zur Seite. „Ihr seid doch phantasielose Geschöpfe. Was willst du mehr, Konrad? Traum und Sage stimmen zueinander. Welcher Beweise bedarf es da noch? Die Sache ist eindeutig."
„Und wie, bitte schön, komme ich zur Insel?"
Konrad versuchte jetzt, den kühnen Entwurf Vladanas nicht mehr durch einen Rückgriff auf die von Onkel Wodnik geäußerte allgemeine Skepsis, sondern durch einen Hinweis auf unüberwindlich scheinende Sachzwänge zu untergraben. Er scheiterte kläglich.
„Sag du es ihm, Onkel", konterte Vladana geschickt und spannte ihren ursprünglich abgeneigten Onkel schlau in den Dienst ihrer Pläne. „Er hat es selbst geträumt".
„Es ist nicht einfach und nicht ungefährlich", erklärte der Angesprochene. Die Verlegenheit ob dieses ihm zugemuteten Handlangerdienstes war ihm anzumerken. „Es ist aber auch nicht unmöglich. Die Insel Andia, heißt es, ist auch die Insel des Vogels Greif.“
„Der wird dich hinüber tragen“, triumphierte Vladana und kürzte alle weiteren Erörterungen über diesen Punkt ab.
Das war denn auch ihr endgültiger Sieg. Konrad verzichtete auf weitere Einwände und Vorbehalte. Das Gespräch änderte infolgedessen seinen Charakter. Man kam von der Grundsatzdebatte der strategischen Zielsetzung zur Erörterung einzelner taktischer Notwendigkeiten.
Onkel Wodnik brachte jetzt eine Menge von Ratschlägen und wertvollen Erfahrungen ins Gespräch. Am wichtigsten war ihm, dass Konrad um Himmelswillen nicht mehr als einen Apfel vom Baum des Lebens verspeisen dürfe, trotz wahrscheinlich heißer Begierde nach weiteren Früchten, und dass er ebenso auf keinen Fall einen der Fruchtkerne verschlucken dürfe, selbst nicht aus Versehen. Bei zwei, drei oder mehr verzehrten Früchten werde das Maß an Lebenskraft so gesteigert, dass es das Gegenteil der ursprünglichen Stärkung bewirke und zerstörerisch sei. Bei einem verschluckten Kern werde die große Keimkraft desselben den unvorsichtigen Genießer zu einem Riesen austreiben.
So erfahren Onkel Wodnik und so wohlbewandert er in allen Geheimnissen der Luft, der Erde und des Wassers war, Konrads Wahrheitstraum gab auch ihm Rätsel auf, deren Lösung er sich nur annähern konnte. So äußerte er über die Bewältigung der verschiedenen im Traum erschienen Hindernisse kaum mehr als Vermutungen. Wie der Aufstieg auf den Glasberg zu bewerkstelligen sei oder wie Konrad sich in den Besitz einer der Früchte vom widerspenstigen Baum des Lebens setzen könne, das war ihm selbst kaum klarer als seinen beiden Zuhörern. Allerdings zog er aus Einzelheiten des Traums Schlüsse auf deren Erfüllung. Was der Traum verspreche, so folgerte er, das werde die Wirklichkeit auch halten. Die Frage sei hier nicht ob, sondern wie das geschehen werde. Konrad sei im Traum prophezeit worden, dass er den Glasberg erklimme, also werde er an Ort und Stelle auch den Weg dazu finden; und könne er im Traum einer der Früchte vom Baum des Lebens habhaft werden, dann brauche er sich nicht darum zu sorgen, dass ihm das, einmal dort, nicht auch gelinge.
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