„Schmeckt der Kuchen auch gut?“, fragte Beule sachlich, wobei er sich eilig an den anderen Kindern vorbeidrängelte.
„Hier“, sagte Frl. Lampe und zupfte ihm ein Stückchen ab.
„Darf ich auch mal probieren?“, fragte ich, obwohl ich eben erst mein eigenes Frühstück gegessen hatte.
„Natürlich“, sagte mein Vater und zerpflückte seinen Kuchen in viele kleine Häppchen. Frl. Lampe tat es ihm nach.
„Bedient euch, Kinder!“
Alle kosteten von dem süßen Kuchen, von dem Frl. Lampe meinte, er sei ein Gedicht , und alle waren sich einig, es gebe nichts Schöneres.
Mein Vater holte aus seiner Jackentasche einen rotgelben Apfel heraus, zerschnitt ihn mit seinem silbernen Taschenmesser in der Mitte und reichte seiner Kollegin eine Hälfte.
„Auch diesen reifen Apfel wollen wir gerecht teilen“, sagte er ritterlich. „Ich gebe Ihnen selbstverständlich gern die rote Hälfte.“
Frl. Lampe aber zögerte, das Apfelstück anzunehmen. Sie lächelte meinen Vater vieldeutig und verschwörerisch an und sagte:
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir die gelbe Hälfte zu überlassen?“
„Warum?“, fragte mein Vater ahnungslos.
„Darum“, antwortete Frl. Lampe leise und vergnügt, und alle in der weiten bunten Runde lachten.
Das Klingelzeichen über der Eingangstür unserer Schule ertönte. Die Pause war zuende.
„Ich weiß, warum Frl. Lampe die gelbe Apfelhälfte essen wollte“, verkündete ich, als wir Kinder langsam in die Klassenzimmer zurückgingen.
„Warum denn?“, fragte Angeber mit uneinsichtigem Gesicht.
„D-d-arum!“, antwortete ich, wobei ich versuchte, Frl. Lampes Tonfall nachzuahmen, was mir aber nicht ganz gelang.
„D-d-d-arum!“, äffte Angeber mich nach.
Ich beschloss, es ihm bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit heimzuzahlen!
Während der folgenden Unterrichtsstunde wurde noch lange über die Geschichte von der wunderbaren Brotverzehrung getuschelt und gemurmelt.
Babette stieß mich von hinten mit ihrem Holzlineal ans Ohr.
„He“, flüsterte sie, „Picknick!“
„Was ist denn?“
„Glaubst du, dein Vater wird Frl. Lampe bald heiraten?“
„Bestimmt.“
„Und wann?“
„Weiß nicht. Aber lange kann es nicht mehr dauern.“
„He“, hörte ich wieder Babettes Stimme.
„Was willst du wissen?“
„Hast du Frl. Lampes Frühstücksbrot wirklich aufgegessen?“
„Nein.“
„Wo steckt es denn?“
„W-w-arte bis zur nächsten Pause“, sagte ich hinter der vorgehaltenen Hand, „dann verrate ich es dir!“
DIE GESCHICHTE VOM VERLORENEN TON
Die schönsten Augenblicke des Schuljahres hatten wir Kinder in Plunderland an unserem Geburtstag. Dann nämlich war jeder für einen ganzen Vormittag der Mittelpunkt der Klasse.
Als Angeber seinen zehnten Geburtstag hatte, gaben Eule, Beule, Keule und ich uns die allergrößte Mühe, ihm diese unvergesslichen Augenblicke gehörig zu versalzen, denn er hatte es nicht besser verdient. Ich konnte Angeber nicht leiden, weil er mich manchmal nachäffte. Angeber äffte mich manchmal nach, weil ich ihn nicht leiden konnte. Wir hatten ein etwas verzwicktes Verhältnis zueinander.
Während die Klasse Happy Birthday anstimmte, sangen wir so schräg und falsch wie wir nur vermochten. - Aber Angeber merkte es nicht einmal. Nur Frl. Lampe wirkte während des Singens manchmal ein wenig irritiert. Sie sah auch nicht, wie wir oft ohne Ton trällerten und nur zum Schein unsere Lippen bewegten, doch schnitten wir dabei unsere grässlichsten Grimassen.
Gegen Mittag setzte sich Frl. Lampe für Angeber sogar ans Klavier. Sie klappte den Deckel hoch und begann Happy Birthday . Aber an einer Stelle des Liedes streikte das Klavier und ließ nur ein gedämpftes Tuck, tucktuck ertönen.
„Nanu“, sagte Frl. Lampe verwundert. „Mit dem Klavier scheint etwas nicht zu stimmen.“
Tuck, tucktuck ...
„Das Klavier ist kaputt!“, freute Keule sich.
„Es muss gestimmt werden“, sagte Babette und blinzelte mir listig zu.
„Das kostet zweihundert Mark“, bemerkte Tina.
„So?“, sagte Frl. Lampe ratlos.
„Ja. Meine Mutter hat letzte Woche unser Klavier stimmen lassen. Mein Vater hat darüber geschimpft.“
„Und warum?“, wollte Frl. Lampe nun wissen.
„Er sagte: ’Ungestimmt klingt das Klavier viel besser!‘“
„Nun ja“, sagte Frl. Lampe. „Über Geschmack kann man nicht streiten. Was - was machen wir denn jetzt nur?“
„Ich kenne einen, der jedes Klavier reparieren kann“, rief ich in die Runde. „K-k-ostenlos!“
„So - wen denn?“, fragte unsere Lehrerin hoffnungsvoll und erhob sich von ihrem Drehhocker.
„Herrn Presszeh!“, riefen alle Jungen und Mädchen wie aus einem Munde.
„Ich hole ihn!“
Noch bevor Frl. Lampe widersprechen konnte, war ich aus dem Klassenzimmer herausgestürmt. Ich sauste durch das Treppenhaus, schlinderte über den blankgebohnerten Flur des Obergeschosses und riss, ohne anzuklopfen, atemlos vor Aufregung, die Tür der Klasse meines Vaters auf.
„Herr Presszeh!“, entfuhr es mir, wobei ich einen flüchtigen Blick auf die verdutzten Gesichter in den Bänken warf. Gelassen hielt mein Vater beim Schreiben an der Tafel inne.
„Mein Freund“, sagte er, „kann ich dir vielleicht helfen?“
„Fräulein Lampe“, japste ich, nach dramatischen Worten ringend.
„Was ist denn mit Fräulein Lampe?“
„Sie kriegt keinen Ton heraus!“, brachte ich die komplizierte Lage treffend auf den Punkt.
„Na sowas“, sagte mein Vater lächelnd. „Wir wollen mal sehen, ob wir ihr helfen können.“
Mit wildem Gejohle stürmten alle Kinder der Klasse über Tische und Bänke und eilten mit meinem Vater in das Untergeschoss des Schulgebäudes.
„Gibt es ernstliche Probleme?“, fragte mein Vater, als er unseren Klassenraum betrat. Seine linke Hand steckte in der Hosentasche.
„Das Klavier ist kaputt!!!“, riefen alle Kinder mit merkwürdiger Begeisterung. „Heilemachen!!“
„Nun, dann wollen wir mal sehen, was sich machen lässt“, sagte mein Vater fachmännisch.
„Der C-Akkord hat uns verlassen“, erklärte Frl. Lampe achselzuckend.
„Keine Sorge, der kommt schon wieder“, beruhigte mein Vater sie.
Er klappte den oberen Deckel des Klaviers hoch und beugte sich darüber, um einen Blick in das Innere zu werfen.
„Aha“, sagte er triumphierend. „Die Geschichte vom verlorenen Ton kommt zu einem glücklichen Ende.“
„Haben Sie den Fehler?“, fragte Frl. Lampe und atmete dabei erleichtert auf.
„Allerdings“, bemerkte mein Vater und griff mit der rechten Hand tief in das Gehäuse hinein. Er angelte ein kleines graues Paket ans Tageslicht. Es sah aus wie ein in Pergamentpapier gewickeltes Frühstücksbrot.
„Nanu“, sagte Frl. Lampe und wurde ein wenig rot.
„Ihr Pausenbrot ist wieder da!“, jubelten die Kinder mit vergnügten Gesichtern.
„Das sehe ich. Mich würde nur interessieren, wer – “
„Aufessen! “, unterbrach ich sie.
„Ja! Aufessen!“, tobten alle durcheinander.
„Sie sehen, uns bleibt keine andere Wahl, als uns dem Willen des Volkes zu beugen“, sagte mein Vater und wickelte das Papier von dem Brot. Er gab Frl. Lampe eine der beiden Schnitten und blickte sich amüsiert nach allen Seiten um. In diesem Moment bimmelte die Schulglocke. ”Mahlzeit“, sagte er trocken und biss vorsichtig in das mit Käse belegte Brot. Doch dann verzog er das Gesicht, wobei er aussah wie Herr Piesepampel, unser mürrischer Hausmeister. „Ziegelhart“, sagte er. „Diesen Belastungen sind meine Zähne nicht gewachsen.“
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