Entsetzlich, dachte Anica, jede einzelne Phase der Mordtat als Augenzeuge zu verfolgen, noch entsetzlicher, sie kaltblütig mit Kameras aufzunehmen, um eine professionelle Einstellung und Aufnahme zu erreichen.
Die Journalistin empfand bei jeder Bewegung des Hauptmanns Gedanken des Eingreifenwollens, des Widerstandes und endlich der Ohnmacht, spürte bei jedem Schuss einen Stich ins Herz. Aber sie war wie gelähmt, vermochte die Kamera nicht vom Auge abzusetzen, nicht den Auslöser loszulassen, den Blick nicht von der Szene zu trennen. Nachdem der Hauptmann den letzten Schuss abgegeben hatte, sein Opfer schmerzverkrümmt regungslos dalag, stieg brennendes Schamgefühl in der Journalistin auf.
Die anderen Reporter kehrten bereits zu den Hütten zurück, da erst hing sich Anica die Kamera über die Schulter. Bedrückende Stille beherrschte nun die düstere Flusslandschaft.
„Look here, Madam“, sagte der Hauptmann stoisch, „so sind diese Kerle, sterben ohne zu klagen. Fanatiker sind das. Terroristen, Partisanen, denen Recht geschieht. Einmal verhörte ich einen, der schon erblindet war, aber gleichwohl ständig versuchte, mich anzuspucken. Hoffentlich sind Ihre Aufnahmen gelungen. Ob das Licht ausgereicht hat?“
„Bestimmt“, entgegnete sie beherrscht. „Ich bin sehr froh, dass Sie mir Gelegenheit zum Filmen gegeben haben.“ Sie war es gewohnt, sich zu beherrschen, und zweifelte nicht an der Beweiskraft der Bilder, die auch zeigen würden, wie der Verwundete vor den tödlichen Schüssen seine zusammengelegten Hände mühselig an Mund, Brust und Schultern führte.
Der Offizier lächelte, ein wenig steif. „Ich habe etwas für Sie, äh, die Medien übrig“, sagte er, die schmalen Augen zu Boden schlagend. „Weniger für unsere eigenen Reporter, die können nicht so viel. Doch ihr Ausländer macht tolle Magazine mit vielen schönen Bildern. Ich bin schon einmal auf einem Foto von `Image-Revue´ gewesen, als ich eine Razzia in einem Kloster leitete. Die Frau eines Kameraden hat das Bild entdeckt, ausgeschnitten und nach Hause geschickt.“
„Was werden Sie mit den Leuten aus den Hütten machen?“ wollte Anica wissen. Der Hauptmann schob das Magazin in den Pistolenknauf zurück. Obwohl seine Bewegungen etwas Ungelenkes an sich hatten, ließ sein Gesichtsausdruck Intelligenz erkennen; das zeigten ihr seine wachen Augen über der aristokratischen Höckernase, sein energischer Mund, die auf und ab wandernden Augenbrauen und die sich faltende Stirn. Ohne seine Uniform würde er durchaus als Spätsemester der Universität Sarajevos durchgehen können, dachte Anica.
„Erschießen“, antwortete der Hauptmann leichthin.
„Zasto? Warum?“
„Vielleicht nicht alle“, gab er einschränkend zurück. „Aber einige auf jeden Fall. Die übrigen ab nach Lapovo. Das sind Terroristen. Und haben die Leute gedeckt, die die Bombe gelegt haben. Das genügt, um sie für lange Zeit in Lapovo festzuhalten.“
„Möglicherweise ist ein Kommando der Belagerer über den Fluss gekommen, ohne dass die Hüttenbewohner sie gesehen haben“, wandte sie ein.
„Etliche von ihnen paktieren mit den bosnischen Serben, das ist klar, sonst wären unsere Erfolge mit Allahs Hilfe größer“, erwiderte er achselzuckend. Er gab sich nicht die geringste Mühe, seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal dieser armseligen Menschen vor der Journalistin zu verbergen. Vielleicht war er der Sohn eines Händlers vom Hauptmarkt oder eines Handwerkers aus der Schmiedegasse. Anica wusste, seit Titos Tod wurden viele der Kinder solcher Leute im Geiste der alten Ressentiments erzogen und in Schulen geschickt, in denen sie Hass lernten auf die sogenannten Besatzer, die sie wie Ungeziefer behandelten und nach ihrer Vernichtung trachteten. Die Journalistin hörte oft, dass die Kriegsverbrechen der Belagerer an den Abtrünnigen sie in ihrem Glauben an ihre gerechte Sache bestärkten, so wie diese die Bekämpfung der Renegaten für rechtmäßig geboten hielten. Immer wieder spürte die deutsche Reporterin Beklemmung und Zwiespalt in einem Land, das in der Tradition stand der Ustascha, der Tschetniks, aber auch des heroischen Partisanenkampfes unter der Führung von Josip Broz Tito, was seine Fortsetzung fand in den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen sowie den verfeindeten Fraktionen untereinander.
„Beim Verhör behaupten sie, von nichts etwas zu wissen“, sagte der Offizier hart; seine flache Hand durchschnitt die Luft in einer abrupt-energischen Bewegung. „Nur Lügen kommen aus ihrem Mund.“
„Dann sind es Notlügen“, hielt ihm Anica heftig entgegen und verschränkte die Arme. „Für Ihresgleichen.“ Weil du keine Ahnung hast, was das Volk wirklich empfindet, dachte sie, und weil es dich nicht im Geringsten interessiert. Der kleine Hauptmann denkt an seine Macht über die ihm unterstellte Kompanie, Pope und Imam jeweils an die über ihre gläubige Gemeinde, der Vater an die über seine Familie, und die Kinder treten in ihre Fußstapfen.
„Deshalb muss man sie erschießen, Madam“, erklärte der Hauptmann kopfnickend und setzte eine gewichtige Miene auf. „Das ist meine Pflicht, die ich erfüllen muss. Ich sorge dafür, dass sie an die Wand gestellt werden. Wie die anderen. Das ist am sichersten. Auf einzelne kommt es nicht an, wenn wir uns nur Gottlosigkeit und falschen Glauben vom Leibe halten können.“
„Haben Erschießungen stattgefunden?“ fragte Anica wie beiläufig.
„Das geht Sie nichts an“, raunzte der Hauptmann. „Krieg ist keine Urlaubssafari. Da kann es jeden treffen, wenn er nur dicht genug dabei ist. Das müssen Sie doch am besten wissen nach der Geschichte mit dem tschetschenischen Paniklegionär!“
Anica schwieg betroffen. Jedes noch so treffende Argument würde unter diesen fatalen Umständen fruchtlos an dem Hauptmann abprallen.
„Hören Sie!“ sagte er eindringlich, fast einlenkend. „Es handelt sich wirklich um gefährliche Sektierer. Die sind doch klammheimlich direkt froh, ohne Umweg in ihr Paradies einziehen zu können.“
Du irrst dich, dachte Anica, und wirst es vielleicht niemals verstehen; aber wie könnte ich es dir auch begreiflich machen. Resigniert wendete sie sich ab.
Äußerste Konfusion herrschte dort, wo die entkleideten Hütten- und Zeltbewohner auf den Steinen kauerten. Anica hörte Frauen verzweifelt auf die Soldaten einschreien, ihre Kinder wimmerten. Sie sah die Soldaten des Hauptmanns mit ihren dumpf aufkrachenden Gewehrkolben auf die Leute einprügeln. Einige schützten sich mit vor den Kopf gehaltenen Armen, andere lagen auf dem Rücken, die Beine abwehrend angewinkelt, manche reglos zusammengekrümmt, ohnmächtig. Einen der Soldaten, einen jungen Mann mit Knollennase und offensichtlich mit Henna eingefärbtem Bart, sah Anica mit dem Bajonett hantieren, sich bücken, und sie traute ihren Augen nicht: Der unmenschliche Kerl gefiel sich wahrhaftig darin, sich stolz mit dem gerade abgehackten Kopf seines Opfers ablichten zu lassen.
Als die Reporterin die Kamera zur Hand nahm, hinderte sie der Offizier daran, indem er das Objektiv herunterdrückte und mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf schüttelte. Dass sie die Kleinstkamera in ihrer Handtasche mit frischem Tape laufen ließ, bemerkte er nicht.
Die Nacht war mondlos, schwarz, und nur der weiße Schein der Lichtkegel aus den Stablampen hob immer wieder entsetzte, verzweifelte Gesichter und die auf sie herabsausenden Gewehrkolben geisterhaft aus der Dunkelheit hervor, die lackierten Stahlhelme und die zum Schlag erhobenen Soldatenhände. Die Szenerie hatte etwas Gespenstisches, Unwirkliches, eine grausige Licht- und Schattentragödie spielte sich ab, und das grell gellende Wehgeschrei der gefolterten Menschen wirkte in Anicas Ohren schmerzhaft, alarmierend und gleichzeitig blockend, betäubend.
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