Ob er selbst mich gleichfalls erkannt hat?
„Nehmen Sie mich mit“, bat Zudeck-Perron und klopfte verlegen grienend die Taschen seiner unverkennbaren dunkelbraunen Lederjacke ab; er trug sie wie ein Markenzeichen, im Winter gefüttert und mit Lammfeldkragen, und versuchte, so oft es ging, bei Live-Schaltungen mit ihr ins Fernsehbild zu gelangen. Er fand nicht, was er suchte, sagte hastig: „Das mit dem Blauen regeln wir dann später.“
„Na gut, Sie können mitkommen, Madam“, sagte der Hauptmann mit zusammengekniffenen Augen, ohne den Fotoreporter eines Blickes zu würdigen. „Doch muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass es in den Bergen sehr geregnet hat; der Fluss führt viel Wasser. Und auch sonst – Sie müssen wissen, dass Sie sich in Gefahr begeben.“
„Wo man bekanntlich umkommt“, setzte Zudeck-Perron bissig hinzu ohne Beachtung zu finden. Sein Lächeln war zu einer grinsenden Maske gefroren.
„Doch da ist ja der blaue Schein als Versicherung, Madam“, fuhr der Offizier fort. Wenn er die Journalistin wiedererkannt haben sollte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
„Wohin soll es gehen?“ fragte Anica, und der Fotograf vergrößerte seine rechte Ohrmuschel mit der hohlen Hand.
„Die Spurensucher haben eine Fährte verfolgen können. Nicht auszuschließen, dass es zu einer Schießerei kommt, Madam.“
„Ich werde mich ducken“, versprach sie, hielt dem Hauptmann einen zwischen Zeige- und Mittelfinger gefalteten Hundertmarkschein hin. Anstandslos steckte der Offizier ihn ein. Sie hing sich die Kamera über die Schulter und sah sich nach den Lastwagen um. Die Soldaten marschierten bereits in langen Schlangen in die Dunkelheit. Den maliziösen Blick Zudeck-Perrons im Rücken folgte die TV-Reporterin den Soldaten einige hundert Meter über harten Lehmboden hinab zum Miljacka-Ufer, wo flussabwärts eine Reihe provisorischer Flüchtlingshütten stand. Auf dem Wasser schwamm Unrat aller Art; Anica konnte ihn in der Dunkelheit, die durch trübe Kerosinlampen kaum aufgehellt wurde, mehr riechen als sehen. Die Soldaten versahen ihren Dienst offenkundig äußerst beflissen und hatten den besiedelten Uferstreifen binnen weniger Minuten hermetisch abgeriegelt.
11 Kriegswillkür
Der Krieg misst alles mit eigenem Maß, notierte Anica in ihr Ringbüchlein die Wartezeit nutzend. Die Menschen in Uniform eilen todbringenden Detonationen und mörderischem Maschinenpistolengeknatter mit gleicher Ungeduld entgegen wie Leute in anderen Zeiten auf die innere Stimme des Lebens, auf einen Lichtschein in der Landschaft, auf die rotierenden Signale eines Leuchtturms oder eine Behausung inmitten einer gottverlassenen Wüste zueilen.
Plötzlich fielen Schüsse.
Die Journalistin duckte sich hinter einen Baumstumpf am Ufer. Sie sah die aufgeschreckten Bewohner, von den Uniformierten angetrieben, ans Wasser hasten, wo sie ihre Kleidung ablegen mussten. Die einen verhalten sich wie Cowboys, dachte Anica, die anderen lassen sich treiben wie Kühe, würdelos – beide Seiten, und dann müssen sich die einen noch das Fell vom Fleisch reißen lassen. An ihnen vorbei ging die Reporterin zu den Bretterbuden und Zelten. Sie dokumentierte mit ihrer Kamera, wie die Soldaten im Licht von Handscheinwerfern im Hausrat wühlten, Kleidungsstücke und Lebensmittel aus Kästen und Körben zerrten sowie wahllos Gegenstände ins Wasser warfen. Niemand hinderte die Journalistin an Aufnahmen der Szenerie, die schlagartig immer wieder von den Blitzlichtern einheimischer Zeitungsleute erhellt wurde. Unvermittelt schrillten Trillerpfeifen, und trocken-hohles Geknatter von Maschinenpistolen setzte ein.
Ins Sichtfeld der TV-Kamera geriet ein kleines selbstgezimmertes Floß; es war bereits einige Längen vom Ufer entfernt, doch die Scheinwerfer der Soldaten rissen es heraus aus der schützenden Dunkelheit. In das zerbrechlich wirkende Fahrzeug schlug eine Kette von Geschossen ein. Der Floßführer kauerte geduckt am Heck und bewegte die lange, dünne Latte, die als Ruder diente, bis ein erneuter Feuerstoß die von Hanfseilen zusammengehaltenen Stämme auseinanderzerrte und den Mann in die reißende Flut stürzte. Die Soldaten warfen ihm eine Leine zu und zogen ihn an Land, während das Floß vollständig zerbarst und die zersplitterten Stämme von der gischtenden Strömung kunterbunt durcheinander gewirbelt und in die Düsternis gespült wurden.
Anica setzte die Kamera ab und lief dem Hauptmann hinterher bis zu der Stelle, an der man den Mann auf das Ufergeröll gelegt hatte. Der schwarzbärtige, dunkelgebräunte Mann hielt die Augen geschlossen, die Reporterin sah, dass Kugeln ihn in Beine und Unterleib getroffen hatten. Aus den Wunden sickerte Blut. Niemand schickte sich an, erste Hilfe zu leisten und sie zu verbinden.
Der Hauptmann gab seinen Soldaten Wink, beiseite zu treten. Er stellte sich, gefolgt von der Journalistin, vor den Schwerverletzten und stieß ihn mit dem Fuß an. „Du hast die Bombe gelegt! Gibst du es zu?“
Der zerschossene Mann sah blinzelnd zu dem Offizier auf, die Scheinwerferkegel der auf ihn gerichteten Stablampen blendeten ihn, aber noch mehr quälten ihn offensichtlich die schmerzenden Wunden. Mühsam schüttelte er den Kopf und presste durch zusammengebissene Zähne: „Ne!“
„Du willst fliehen! Zasto?“ bellte der Hauptmann. „Warum?“
Eine Antwort bekam er nicht.
„Ich lasse dich verbluten, wenn du nicht gestehst. Wo sind deine Komplizen? Eure Spur führt direkt hierher. Wer ist es noch gewesen?“
Der Verwundete zuckte ächzend die Schultern. „Du wirst niemanden finden.“
„Du hast ihnen geholfen“, knurrte der Offizier und trat wieder nach dem Gefangenen. „Du bist auch ein gottverfluchter schiitischer Terrorist!“ Er stieß hart mit dem Fuß in den Unterleib seines Opfers. „Gib zu, dass du es warst!“
„Du wirst getötet werden“, sagte der Verletzte beherrscht. Er war nicht mehr jung, und den unter seinem durchnässten Wollhemd sich abzeichnenden Rippen und der asketischen Muskulatur sah Anica an, dass er Entbehrung und schwere Arbeit gewöhnt war. Von seiner Physiognomie, den Bartstoppeln und dem kurzgeschorenen Haar konnte sie so wenig wie die Umstehenden auf seine Religion oder politische Überzeugung schließen.
„Irrtum“, schrie der Hauptmann. „Dich werde ich töten, und zwar auf der Stelle. Außer, du nennst die Namen der Bombenleger; dann lasse ich dich verbinden.“
Der Mann am Boden blickte an dem Offizier vorbei in den Nachthimmel, als er sagte: „Man wird dich töten. Eines Tages.“
Der Hauptmann kniff die Augenlider zusammen und zog mit dieser ihm eigenen Umständlichkeit seine Faustwaffe, eine schwere russische Armeepistole, die mit einer Chromkette an das Koppel gebunden war. „Sehen Sie sich an, wie unverschämt der Kerl ist, Madam“, sagte er zu der Reporterin, und sein enger Blick bekam einen bösartigen Ausdruck; er wirkte nicht mehr jugendlich, attraktiv, seine gebogene Nase zitterte. „Machen Sie ruhig Bilder davon. Die anderen müssen abgeschreckt werden. Niemand stirbt gerne so, wie dieser Renegat hier sterben wird. Ich werde es ganz langsam machen, damit Sie es in aller Ruhe filmen können.“
Anica schnürte es die Kehle zu, heiß spürte sie den Blutdruck hochschießen vor Wut, Entrüstung, Hass. Diese Szene erinnerte sie an längst überwunden geglaubte Gräuel des an gleicher Stelle tobenden zweiten Weltkriegs oder an Bilder aus Indochina, die vor drei Jahrzehnten auf preisgekrönten Presseaufnahmen festgehalten worden waren. Die anwesenden Fotografen knipsten denn auch drauflos, als wolle jeder den Pulitzerpreis für sich gewinnen: Wie der Hauptmann stelzbeinig, aber mit routiniertem Handgriff die Pistole durchlud, wie er den schlaksigen Arm hob und streckte, anlegte und die Waffe auf den Verletzten gerichtet hielt, wie er sorgsam und etwas schwerfällig zielte und dabei das linke Auge zukniff, wie er kaltblütig, ruhig den Abzugshebel durchzog, wie er den wehrlos am Boden Liegenden zuerst in die Brust, dann in den Hals und zuletzt in den Kopf schoss, wie er sich nach jedem Schuss mit Blicken vergewisserte, ob auch jede einzelne Szene auf Film und Foto festgehalten wurde. Und wie er schließlich gleichmütig das Magazin entnahm, um Patronen aufzufüllen.
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