„Weshalb?“, fragte Frau Fendrich zurück und schaute Schimmer dabei mit einem eindringlichen und zugleich fragenden Blick an.
„Ich denke, wir sollten dies besser in Ihrem Haus besprechen“, gab Schimmer zurück und deutete dabei in Richtung Haustür. Er war bereits einen Schritt gegangen, als er bemerkte, dass Frau Fendrich sich nicht vom Fleck rührte.
„Mal schön langsam, junger Mann. So einfach kommen Sie mir nicht in die Wohnung“, sagte Frau Fendrich und trat einen halben Schritt zurück. Ihr Blick verriet Argwohn, gepaart mit Misstrauen.
Schimmer verstand nicht, was dies nun sollte. Hatte er es heute nur mit verqueren Leuten zu tun? Doch plötzlich schoss es ihm wie ein Blitz durch den Kopf. „Oh … Verzeihen Sie … Tut mir leid …“, stotterte er und zog dabei seinen Dienstausweis aus der Innentasche seiner Jacke. „Schimmer, LKA Berlin.“ Durch das plötzliche Auftauchen von Frau Fendrich hatte er vollkommen vergessen, sich auszuweisen, und es war daher wohl auch kein Wunder, dass er nicht ohne Weiteres in das Haus gebeten wurde.
„Polizei? Ist etwas passiert? Ist etwas … es ist etwas mit Petra!“
Schimmer sah Frau Fendrich mit einem – so hoffte er jedenfalls – nichtssagenden Ausdruck in den Augen an. „Können wir das im Haus besprechen?“, fragte er nochmals und deutete dabei mit offener Hand in Richtung Haustür.
Frau Fendrich nickte stumm. Sie drehte sich ab und ging einige Schritte in Richtung Haus, ehe sie stehen blieb und sich zu Schimmer herumdrehte. „Ja, sicher. Ich gehe voraus. Bitte kommen Sie“, kam es dünn über ihre Lippen.
Schimmer wusste, dass die Frau mit dem Schlimmsten rechnete, aber den Gedanken dennoch mit aller Kraft verdrängte. Es war ein Zwiespalt, der innerhalb von nur wenigen Sekunden in jedem Menschen vonstattenging und meist mit dem Gedanken endete, dass etwas Schlimmes, Endgültiges passiert war. Ein Polizist brachte in der Regel keine guten Nachrichten, und wenn ein Familienmitglied auf Reisen war, schon gar keine.
Im Haus wurde er in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer geführt, dessen Möbel ihn an die Sechzigerjahre erinnerten und denen glichen, die auch seine Eltern besessen hatten. Frau Fendrich bot ihm an, sich an den Esszimmertisch zu setzen, und nahm aus dem Wohnzimmerschrank einen goldfarbenen, verzierten Aschenbecher heraus. Den Aschenbecher stellte sie vor Schimmer auf den Tisch und trat einen Schritt weit in den Raum zurück.
„Was ist mit Petra?“, fragte sie mit stockendem Atem.
Verwundert sah Schimmer auf den Aschenbecher und danach zu Frau Fendrich. Sie stand starr im Raum und versuchte krampfhaft ihre zittrigen Hände ruhig zu halten. Schimmer stand auf, nahm Frau Fendrich vorsichtig in den Arm und führte sie zu einem großen Ohrensessel, der in einer Ecke des Wohnzimmers direkt neben einer Stehlampe stand.
„Frau Fendrich, nehmen Sie bitte Platz“, sagte er behutsam und legte dabei seine Hand sanft auf ihre Schulter. Sie sah ihn aus wässrigen Augen an, nickte stumm und setzte sich. Schimmer ging zum Tisch zurück, nahm sich einen der Stühle und stellte ihn dicht vor dem Sessel ab. Er setzte sich, nahm Frau Fendrichs zittrige Hände in die seinen und begann leise und einfühlsam: „Frau Fendrich, Sie machen sich Sorgen, dass ich hier bei Ihnen bin, und ich würde Ihnen gerne helfen. Doch ich bin mir nicht sicher, ob ich dies kann. Ich muss Ihnen etwas mitteilen, das sehr schwer für Sie sein wird, und ich möchte, dass Sie sich nicht zu sehr aufregen.“ Frau Fendrich nickte stumm und senkte den Blick. „Ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie und Ihre Familie. Ihre Tochter, Petra, sie ist heute Morgen mit einem Flugzeug kurz vor Salzburg abgestürzt. Sie kam mit den anderen Passagieren und den beiden Piloten ums Leben.“
Frau Fendrich sah Schimmer mit fassungslosen, leeren Augen an, zog ihre Hände zurück und verkrampfte sie in ihrem Schoß, bis die Knöchel weiß hervortraten. Langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen, die kurze Zeit später in dicken Tropfen über beide Wangen rollten.
„Nein, bitte, sagen Sie, dass es nicht wahr ist, bitte …“, schluchzte sie und drückte dabei die gefalteten Hände gegen ihren Mund. Der gesamte Körper wurde allmählich von krampfartigen Anfällen geschüttelt, und Schimmer bekam es mit der Angst zu tun. Er sprang auf, setzte sich auf die Lehne des Sessels und nahm Frau Fendrich behutsam in den Arm.
„Bitte beruhigen Sie sich doch“, sagte er hilflos, da er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, und sah sich Hilfe suchend im Wohnzimmer um. „Frau Fendrich, soll ich Ihren Mann verständigen oder irgendjemand anderen aus Ihrer Familie?“
Unter ständig neuen Weinkrämpfen brachte Frau Fendrich schließlich schluchzend hervor, dass ihr Mann schon seit Jahren verstorben sei und weitere Verwandte nicht in Berlin lebten. Ihre Tochter, Petra, wäre der einzige Mensch, den sie hier in Berlin noch hätte.
Schimmer war klar, dass er die Frau in diesem Zustand nicht alleine lassen konnte. Er rannte in den Flur, in dem er beim Hereinkommen das Telefon gesehen hatte, und griff sich ein braunes Telefonregister, das direkt neben dem Apparat lag. Seite für Seite blätterte er es hastig durch. Ungefähr in der Mitte fand er, was er gesucht hatte. Er nahm den Hörer von der Gabel, tippte die Nummer ein, die hinter dem Namen Schröder stand, und wartete. Frau Fendrichs Schluchzen wurde heftiger und er hörte deutlich aus dem Wohnzimmer, dass sie bereits krampfhaft nach Atem rang.
*
Das Rufzeichen drang laut und fordernd durch die Leitung, so als wüsste das Telefon, dass es dringend war. Doch nach dem achten oder neunten Rufzeichen knallte Schimmer den Hörer auf die Gabel. „Verdammt …“, fluchte er vor sich hin, während er den Hörer wieder von der Gabel riss und diesmal die 112 wählte. „Immer, wenn so ein verfluchter Arzt gebraucht wird, ist der mit Sicherheit nicht da.“ Schimmer wünschte diesem Schröder, hinter dessen Namen Hausarzt stand, alles Schlechte für die Zukunft.
Der Anruf in der Notrufzentrale wurde nach dem zweiten Rufzeichen angenommen, und Schimmer gab in kurzen Worten durch, um was es sich handelte. Als er wieder in das Wohnzimmer kam, lag Frau Fendrich vor dem Sessel auf dem Boden und rang verzweifelt nach Luft.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße …“, fluchte Schimmer, stürzte zu ihr hin und ließ sich auf die Knie fallen. Was sollte er nur tun? Er hatte keine Ahnung, was er in solch einem Fall unternehmen sollte. Die letzten Erste-Hilfe-Kurse hatte er mit den unterschiedlichsten Ausreden umschifft und sich keinen Gedanken darüber gemacht, dass er je einmal in die Situation geraten würde, einem Menschen helfen zu müssen.
Aufgeregt und schüchtern zugleich knöpfte er Frau Fendrich die Bluse auf und hoffte dabei inständig, dass sie dadurch besser Luft bekommen würde. Doch sie rang von Sekunde zu Sekunde heftiger nach Atem, und Schimmer spürte instinktiv, dass hier schnellstens ärztliche Hilfe nötig war.
„Was machst du denn da?“, rief Hofer, der plötzlich in der Wohnzimmertür stand und Schimmer fast zu Tode erschreckt hätte.
„Blöde Frage. Nach was sieht es denn aus? Steh nicht so blöd herum, hilf mir lieber“, schrie Schimmer, der mit dem unerwarteten Auftauchen Hofers vollkommen die Fassung verloren hatte.
Hofer kam ins Zimmer, kniete sich neben Schimmer auf den Boden und mit einem schnellen, geübten Griff überprüfte er den Puls und kontrollierte danach die Atmung von Frau Fendrich. Dann wuchtete er den Wohnzimmertisch zur Seite und zog Frau Fendrich im Rettungsgriff zur Couch, um sie mit beiden Beinen stützend in aufrechter Position zu fixieren. „Hat sie sich sehr über die Nachricht aufgeregt?“, fragte er, während er nochmals Puls und Atmung kontrollierte.
„Ja, sehr sogar. Sie scheint die Einzige zu sein, die nichts von dem Absturz wusste. Petra Fendrich ist ihre Tochter, der Mann ist verstorben und weitere Angehörige leben nicht in Berlin“, antwortete Schimmer und verfolgte völlig irritiert Hofers routiniertes Vorgehen.
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