In welcher Beziehung Himiltrud tatsächlich zu Karl stand, ist trotz dieser Aussagen ungewiss. Die beiden Nachrichten über Pippins uneheliche Geburt stammen nämlich aus der Zeit nachdem Karl ihn von der Herrschaft ausgeschlossen hatte (ca. 789). Es wäre also denkbar, dass die Autoren dessen Entscheidung den Anstrich der Rechtmäßigkeit geben wollten. Papst Stephan hielt Karl zur fraglichen Zeit für rechtmäßig verheiratet (Quelle 2, Absatz 2). Mittlerweile hat sich in der Forschung die Auffassung durchgesetzt, Himiltrud sei eine rechtmäßige Ehefrau des Frankenkönigs gewesen. (Martina Hartmann, Königin, S.97 f.; Hack, Alter, S. 65 f.; Wilfried Hartmann, Karl, S. 51. Zur Frage von Pippins Illegitimität ausführlich Hagn, Illegitimität, S. 98-107)
Sicher ist allein: Himiltrud war nicht Karls Friedelfrau. Die im Frühmittelalter so häufig praktizierte Friedelehe gibt es nämlich erst seit 1927. In diesem Jahr hat sie Herbert Meyer als ein Rechtsinstitut vorgestellt, unterschieden von der Muntehe durch das Fehlen der Munt (Schutzherrschaft) des Mannes über die Frau. (Meyer, Friedelehe) Diese These hat jahrzehntelang die prosopografische Frühmittelalterforschung beherrscht, ist aber mittlerweile schlüssig widerlegt. (Ebel, 1989 und 1993.)
Doch zurück zu den Ehescheidungen. Leopold von Ranke, einer der berühmtesten Historiker des 19. Jahrhunderts, behauptete 1884 in seiner Weltgeschichte (S. 392): „Karl hatte sich bereits von einer früher geschlossenen Verbindung losgerissen und sich mit Desiderata, der Tochter des Desiderius vermählt, aber die große Koalition schien doch ihm selbst gefährlich werden zu wollen. Auf das dringende Verlangen des Papstes, der ihn davor warnte, mit dem verruchten Geschlecht der Langobarden in Verbindung zu treten, zerriss er den Ehebund mit Desiderata und vermählte sich mit der noch sehr jungen Hildegarde, die mütterlicherseits aus der Familie der alten Herzöge von Alemannien stammte.“
Viel ausführlicher, aber mit demselben Ergebnis schilderten Sigurd Abel und Bernhard Simson den Fall in den Jahrbüchern des Fränkischen Reiches unter Karl dem Großen (S. 79 - 86). Sie haben die bis 1888 bekannten einschlägigen Quellen und die Literaturdiskussion zusammengestellt.
Der Name der Tochter des Langobardenkönigs ist nicht sicher belegt und lautete vermutlich nicht Desiderata. So nannte sie Paschasius Radbertus, der Biograf Adalhards, doch sind daran Zweifel angebracht. Möglicherweise hieß sie Gerberga. (Zur Namengebung: Ary, The Politics, S. 7f.; Nelson, Making a Difference, S. 183; zuletzt: Hartmann, Karl, S. 52)
2010 bestätigte Wilfried Hartmann (Karl, S. 51-53) die Erkenntnis, Karl habe Himiltrud verlassen, um die Tochter des Desiderius zu heiraten. Als Grund für deren Verstoßung gibt er auf der Basis der aktuellen Forschung an, er habe nach dem Tod seines Bruders seine langobardenfreundliche Politik korrigieren wollen.
Ein ganz anderes Motiv hat ein ebenfalls ausgewiesener Kenner der Karolingerzeit ausgemacht. Pierre Riché, der langjährige Direktor (1972 -1986) des Forschungszentrums für Spätantikeund Frühmittelalter(Centre de Recherches sur L'Antiquité tardive et le Haut Moyen âge), schreibt: „Leidenschaftlich verliebt in ein dreizehnjähriges Mädchen, seine künftige Gemahlin Hildegard, schickte er seine langobardische Ehefrau zurück zu ihrem Vater. Dem neuen Papst Hadrian I. konnte das nur willkommen sein. (Karolinger, S. 114)
So folgt ein jeder auf derselben Quellenbasis seiner Fantasie, einer kriegerisch, der andere amourös. Die zweifache Scheidung aber bleibt der anerkannte Wissensstand über den Begründer des abendländischen Kaisertums. Rosamond McKitterick (Karl, S. 88 f.) hingegen bezweifelt, dass es zur Eheschließung zwischen Karl und der Tochter des Desiderius gekommen sei. Ich habe diese auf etwas andere Weise ebenfalls in Frage gestellt. (Karl, S. 45-49)
Historiker des 19. Jahrhunderts, so verdienstvoll sie als Vorreiter der modernen Geschichtswissenschaft auch sein mögen, haben die Quellen gemäß ihrer Vorstellungen von Politik, Gesellschaft und Lebensweise interpretiert. Die des 20. und 21. haben deren Thesen, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen, mit wissenschaftlicher Akribie weiter aus- und zu neuen aufgebaut. Wie abhängig aber Forschungsergebnisse vom Weltbild des Historikers sind, ist längst bekannt. Werner Paravicini hat das 2010 in seinem Buch: „Die Wahrheit der Historiker“, sehr pointiert dargelegt.
Wie abhängig das Bild Karls des Großen von der Sichtweise der der Fachleute war und ist, hat Max Kerner gezeigt. Bezeichnend für den wissenschaftlichen Umgang mit diesem „Ausnahmeherrscher“ ist seine folgende Charakterisierung des Karlsbildes (Karl, S. 49): „Was hat die Mythographie der letzten 1200 Jahre nicht alles aus Karl dem Großen gemacht? Die Zeitgenossen priesen ihn als den Vater Europas, als einen großen König, als einen magnus atque orthodoxus imperator. Das Hochmittelalter verehrte ihn als Kreuzfahrer und heiligen Bekenner. Die spätmittelalterlichen Jahrhunderte machten ihn zum Gründer der Pariser Universität und des deutschen Kurfürstenkollegs, zum Idealtyp eines mittelalterlichen Herrschers. Seit der frühen Neuzeit schwanken die wissenschaftlichen und politischen Urteile über diesen großen Karolinger: die einen preisen ihn als Begründer und Wegbereiter der karolingischen Bildungsreform oder auch Mustergermanen, andere beschimpfen ihn als »Sachsenschlächter«, als einen halbgebildeten Analphabeten mit kümmerlichen Lateinkenntnissen, als einen erfolgreichen Bandenchef.“
Gar mancher wird fragen: Was hat diese Zusammenstellung verschiedener Sichtweisen mit den Ehescheidungen zu tun, die seit weit über hundert Jahren zum gesicherten, geradezu weltweit verbindlichen Wissen über Karl gehören? Das muss doch nun wirklich nicht mehr hinterfragt werden.
Die Aufgabe eines Wissenschaftlers besteht auch und vielleicht sogar insbesondere im Hinterfragen von anscheinend gesichertem Wissen.
Das „Wissen“ über die Ehescheidungen ist eng verwoben mit dem seit dem 19. Jahrhundert in gleicher Weise „gesicherten Wissen“ über die andauernde Feindschaft zwischen Karl und seinem Bruder Karlmann, über die Einhard so, wie sie heute gesehen wird, nicht berichtet hat – auch kein anderer Zeitgenosse. Karl, so kann man der neuesten Biografie entnehmen, hat die Tochter des Desiderius geheiratet, um das Reich seines Bruders einzukreisen und diesen dadurch unter Druck zu setzen. (Hartmann, Karl, S. 47) Nach Rudolf Schieffer (Karolinger, S.73) soll ein „offener Krieg“ zwischen den Brüdern bevorgestanden haben, als Karlmann starb, Jörg Jarnut (Bruderkampf, S. 176) und Michael Richter (Die „lange Machtergreifung, S. 58) erwägen sogar, Karl habe etwas mit dem Tod seines Bruders zu tun gehabt. Allein McKitterick (Karl, S. 82-90) bezweifelt – wie auch ich (Karl, S. 45 - 49) - eine andauernde Feindschaft zwischen den Brüdern.
Was, wenn führende Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts in ihrer großen Begeisterung für Karl vage Hinweise falsch gedeutet und romanhaft ausgestaltet haben? Philosophen des 18./19. Jahrhunderts sahen in der das Recht rücksichtslos missachtenden Tatkraft großer Männer eine ungeheure Gefahr für die geordnete Gesellschaft (Siehe: Kucklick, Das unmoralische Geschlecht), aber insgesamt fanden Rechtsbrecher gerade unter Historikern Bewunderung, wenn Unrecht und Krieg dem Ausbau des Reiches und der Konsolidierung der Macht dienten. Zu einem tatkräftigen Herrscher gehörte es, dass er sich um seiner Ziele willen über das Recht und über das hinwegsetzte, was wir heute als Anstand und Menschlichkeit bezeichnen. Oft genug traf das auch zu, denken wir nur an Chlodwig, den Gründer des großfränkischen Reiches, der um der Alleinherrschaft willen, seine männlichen Verwandten ausgerottet hat. Seine Nachkommen haben, ebenso wie die Karls des Großen, Kriege gegeneinander geführt, um ihre Macht auszubauen bzw. vor der gierigen Verwandtschaft zu schützen.
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