„Es wäre wirklich eine Schande, etwas so Schönes wie dich verkommen zu lassen, kleiner Engel“, knurrte Satan leise, ein Anflug von Hohn in der Stimme, der vermuten ließ, dass er etwas plante. „Du hast zugelassen, dass dich jemand berührt, obwohl du inzwischen mir gehörst. Ich bin der Einzige, der sich dir nähern darf...“
Seine Hand glitt in Lucifers Hose.
Der Schlag war ein Reflex, den sich der ehemalige Seraphim in Jahrhunderten des Militärtrainings angeeignet hatte: ein Schlag mit dem Ellbogen gegen das Ohr des Gegners, um dessen Gleichgewicht zu stören, dann ein Fausthieb in die Magengegend, falls keine zu harte Panzerung die Wucht abfing, dann mit dem Knie zwischen die Beine.
Satan taumelte gekrümmt rückwärts und schrie vor Schmerz und Wut, während Lucifer noch zu begreifen versuchte, was geschehen war. Seine rechte Faust brannte vom harten Aufprall gegen Satans Kleidung, unter der sich ein Lederharnisch oder ähnliches befinden musste, um ihn gegen die gröbsten Schläge zu schützen.
Mit Genugtuung beobachtete Lucifer, wie der Höllenkönig sich um seinen Schritt krümmte, bevor er auf die Knie fiel, da sein Gleichgewichtssinn nicht funktionierte. Doch innerhalb von Sekunden schien der Höllenkönig wieder zu sich zu kommen und seine Wut war beinahe körperlich spürbar. Mit aller Kraft schlug Lucifer beide Ellbogen in Satans Nacken, doch anstatt bewusstlos zusammenzubrechen, stieß der Dämon nur ein Schnauben aus, während er weiterhin versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.
Lucifer gab es auf, ihn niederschlagen zu wollen, dafür war er derzeit zu geschwächt. Stattdessen rannte er los, rannte so schnell er konnte Richtung Ausgang. Die aufkeimende Hoffnung trieb ihn an, Satan entkommen und aus der Hölle fliehen zu können. Sein Puls raste, sein ganzer Körper war angespannt und auf Flucht eingestellt.
Er riss eine der beiden Flügeltüren auf und sprintete durch den Gang. Zwar hatte er sich nicht oft aus seinem Zimmer gewagt, doch wann immer Satan das Anwesen verlassen hatte, war Lucifer im Innenhof umhergewandert und hatte sich dort die Zeit vertrieben. In den engen Gängen gestaltete sich Fliegen als unmöglich, doch seine Beine trugen ihn schnell genug die Treppen hinunter und hinaus in den Hof, der von drei Seiten mit Mauern begrenzt war. Nur noch das Haupttor trennte ihn von der Freiheit.
Seine Lungen brannten von der plötzlichen Anstrengung, nachdem er wochenlang ohne Training hatte ausharren müssen, und sein schief verheiltes Bein behinderte ihn mit jedem Meter mehr, aber es gelang Lucifer, den Schmerz auszublenden und sich nur auf die nahende Freiheit zu konzentrieren.
Gegenwind hob ihn einen Zentimeter vom Boden, als er die Flügel ausbreitete, ein Schritt noch, dann stieß er sich vom Boden ab und schwang sich einen Meter in die Luft.
Kälte schlug über ihm zusammen und raubte Lucifer einen Moment lang dem Atem, dann schlug er hart wieder auf, völlig verwirrt von der dämonischen Präsenz, die ihn aus der Luft gerissen hatte. Satans Faust traf ihn unvermittelt am Kopf, dann wurde Lucifers Hinterkopf gepackt und sein Gesicht in den Schlamm gedrückt.
„Widerliches kleines Biest!“, zischte Satan und presste den sich windenden Körper des Engels mit seinem Körpergewicht nach unten. Grob zerrissen die Klauen seiner anderen Hand das Oberteil und gruben sich in das warme Fleisch.
Lucifer zwang sich, nicht vor Schmerz zu schreien, um keinen Schlamm zu schlucken. Heftig tretend und um sich schlagend versuchte er, sich aus Satans Griff zu befreien, doch der Höllenkönig über ihm schien keinen Schmerz mehr zu kennen, nur noch Wut. Seine Klauen trafen die empfindlichen Flügelansätze, fanden auch dort ihren Weg ins Fleisch. Unerbittlich traktierten sie immer die gleiche Stelle, bis das Blut in Rinnsalen den blassen Rücken hinunterlief.
Entsetzen überfiel Lucifer, als ihm allmählich dämmerte, was Satan im Sinn hatte. Der Dämon schnitt immer tiefer, schnitt einen kleinen Kreis direkt am Flügelansatz, dann packte der den Flügelbogen und zog. Lucifers Gegenwehr brach zusammen, als seine rechte Schwinge abriss. Es gab keine Worte, keinen Vergleich für die Schmerzen, die ihn an den Rande der Ohnmacht trieben.
Er stemmte die Füße in den Schlamm und schob sich vorwärts, kam jedoch nur wenige Zentimeter weit, bevor Satan sich am linken Flügel zu schaffen machte, bei dem er noch weniger Vorarbeit leistete, sondern einfach samt umstehenden Fleisch herausriss.
Lucifer hörte Schreie, so laut, dass er glaubte, sie müssten sein Trommelfell ebenfalls zerreißen. Ihm kam nicht in den Sinn, dass es seine eigenen waren.
Er wollte sterben. Keine andere Empfindung existierte in ihm in diesem Moment, außer dem Wunsch, nicht mehr gerettet werden zu können und einfach aus diesem Leben treten zu können.
Man sagte, Menschen fühlten Gottes Liebe und Wärme in dem Moment, in dem sie starben. Lucifer spürte Leere.
Zu verlockend wirkte das Kurzschwert mit seiner minimal gebogenen, blitzenden Klinge und dem prächtig verzierten Schaft. Seit Tagen lag Lucifer auf dem Bauch, das Gesicht von der Tür abgewendet, wie in einem Fiebertraum auf das Schwert an der Wand fixiert. Er wusste, er befand sich in Amons Räumlichkeiten, in die er vorher niemals Zutritt erhalten hätte. Aber inzwischen schien sein neuer Geliebter Schuldgefühle entwickelt zu haben.
Lucifer warf ihm nicht vor, für all das verantwortlich zu sein. Ein leises Seufzen kam über seine Lippen. Er hatte seine Chance zur Flucht gehabt und nicht ausreichend genutzt. Was war er nur für ein Engel...
Allmählich ließen die Schmerzmittel nach und das dumpfe Pochen und Stechen seiner Schulterblätter meldete sich mit unerbittlicher Härte zurück. Seine Sicht verschwamm ein wenig, klärte sich aber schnell wieder. Die Ohnmachtsanfälle wurden seltener. Sein Blick blieb jedoch auf das Schwert fokussiert, die tödliche Klinge aus Stahl, der in den Feuern der Hölle gebrannt worden war, wie Amon ihm erklärt hatte, nachdem er gemerkt hatte, wie fixiert Lucifer darauf war.
Eine Waffe, um einen Dämon zu töten... oder einen Engel.
Lucifer fühlte sich den Engeln nicht mehr zugehörig. Mit einem Gefühl der Leere war er erwacht und was er auch dagegen zu unternehmen versucht hatte, es wollte nicht weichen. Er war heimatlos, ohne Halt Satan ausgeliefert.
Manchmal hörte er Amon eintreten, doch der Dämon sprach nicht mehr mit ihm. Vielleicht hatte er Schuldgefühle, vielleicht verachtete er Lucifer auch einfach dafür, dass er nicht aufstand und weiterhin Widerstand leistete. Doch ohne seine Flügel fühlte er sich dazu nicht länger in der Lage. Sie waren das Einzige, was er Satan voraus gehabt hatte: fliegen zu können und sich als Engel des Herrn ausweisen zu können.
Ein Träne fand ihren Weg über Lucifers Wange und tropfte auf das Bett, das er seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr verlassen hatte. Er war am Ende.
Ein einziger Gedanke beherrschte seine Wachträume: an das Schwert zu kommen und sich endlich aus dieser Situation zu befreien, doch seine Arme wollten ihm nicht gehorchen.
Leona kam und ging, verzweifelte bei dem Versuch, ihn zum Essen oder Schlafen bringen zu wollen. Schließlich beschränkte sie sich darauf, seine Schmerzen künstlich zu lindern. Lucifer wusste nicht einmal, ob er ihr dafür dankbar sein sollte, denn so hatte er nicht einmal das Gefühl, im Sterben zu liegen.
Anfangs hatte er sich gedanklich dafür gescholten, alles so zu dramatisieren, bis sämtlicher Lebenswille und -kraft aus ihm gewichen war, und er einsehen musste, dass Sterben ein langwieriger Prozess sein konnte. Innerlich war er tot, äußerlich nur noch eine langsam schwächer werdende Hülle.
Mühsam setzte er sich auf, den Blick weiterhin auf das Kurzschwert fixiert. Wie in Trance streckte er die Hand danach aus, schloss die Finger um den kühlen Schaft und hob es aus der Halterung. Es lag gut in der Hand und ließe sich sicher mit einer unglaublichen Geschwindigkeit führen, wenn man sich einmal daran gewöhnt hatte, mehr zu schlagen als zuzustechen.
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