Sarah dachte angestrengt nach.
Das bedeutet für die Praxis, dass ich mit 100?% Sauerstoff nur, ... gehen wir mal von einem höchstzulässigen Wert von 1,6 Bar aus ... Moment... 1 Bar haben wir alleine schon für den Luftdruck... bleiben 0,6 Bar für den maximalen Wasserdruck... etwa 6 Meter tief tauchen kann, ohne Gefahr zu laufen, an der Sauerstoffvergiftung zu sterben oder wegen unkontrollierter Krämpfe mein Mundstück zu verlieren und jämmerlich zu ertrinken?
Besser hätte ich es nicht ausdrücken können, meinte Thomas.
Wieder notierte er auf dem Board.
Allgemein ausgedrückt: Es gibt einen Trade-off zwischen Vermeidung der Dekompression und Unterdrückung des Tiefenrausches auf der einen, und der maximal erreichbaren Tauchtiefe auf der anderen Seite. Für Pressluft ergibt sich die maximale Tauchtiefe mit 1,6 geteilt durch 0,21, das ergibt einen zulässigen Gesamtdruck von 7,6 Bar. Minus das eine Bar Luftdruck ergibt einen maximal zulässigen Wasserdruck von 6,6 Bar, was einer Tiefe von 66 Metern entspricht.
Oder für unseren Fall, wenn wir ein 40?% Nitroxgemisch annehmen: 1,6 geteilt durch 0,4 ergibt 4,0 Bar Gesamtdruck minus 1 Bar Luftdruck, bleiben 3 Bar Wasserdruck. Das entspricht 30 Meter Wassertiefe. Mehr war für unseren Toten folglich nicht drin.
Thomas legte den Boardmarker auf die Seite und ging wieder zurück an seinen Platz.
Ich finde nicht, dass uns die Information, dass unser John Doe maximal 30 Meter tief tauchen konnte, sonderlich weiter bringt. Warum also Ihre Zuversicht?
Gröber bediente sich des amerikanischen Ausdruckes für eine nicht identifizierte Person wahrscheinlich, um seine Untergebenen zu beeindrucken. Das Ganze klang bei seiner stark schwäbisch gefärbten Aussprache allerdings irgendwie aufgesetzt.
Thomas konterte:
Das war nur die kleine Information am Rande, von der ich sprach. Sie haben Recht, denn viel wichtiger ist für uns die Information, dass er überhaupt mit Nitrox getaucht ist. Denn: Prinzipiell kann jeder, der eine gewisse Ahnung hat, seine Flaschen mit einem dafür geeigneten Kompressor selber befüllen. Aber da er ein Nitroxgemisch benutzt hat, können wir fast zu 100?% davon ausgehen, dass er sich seine Luft bei einem Tauchshop geholt hat. Das führt uns zu zurück auf unseren gestern verworfenen Vorschlag mit den Tauchcentern.
Ok, verstanden.
Gröber schien Thomas‘ Begeisterung nicht zu teilen.
Noch was?
Ich bin mir relativ sicher, dass die Zahl der Tauchcenter, die Nitrox abfüllen, nur ein Bruchteil dieser Endlosliste ausmachen. Das grenzt unsere Suche ganz erheblich ein! Ich werde mich gleich im Anschluss daran machen herauszufinden, welche Tauchshops das überhaupt anbieten, dann können wir ganz gezielt bei unserer Befragung vorgehen. Des Weiteren ist von großem Vorteil, dass es unser Opfer war, das getaucht ist und nicht oder nicht nur unser Täter! Denn, sowenig wir zwar von ihm wissen, wir haben ein Vielfaches mehr an Informationen über das Opfer als über den Täter! Mit ein bisschen Glück können wir unseren Toten in Kürze identifizieren.
Thomas setzte sich wieder auf seinen Platz und gewährte der nun einsetzenden Stille den nötigen Raum.
Das heißt, ich habe mal so ganz nebenbei Ihr „Nadel-im-Heuhaufen-Problem“ flugs auf eine überschaubare und lösbare Aufgabe reduziert, tönte es nach einigen Augenblicken mit einem leichten Unterton der Selbstzufriedenheit aus dem Konferenzlautsprecher.
Brauchen Sie mich im Moment noch? Ich hätte da noch Kundschaft...
Nein, das war, denke ich, alles, bellte Gröber ins Gerät, ohne sich bei den Anwesenden zu vergewissern, ob noch Fragen bestanden.
Er langte Richtung Tischmitte, doch bevor er den Ausschalter betätigte, konnte Sarah noch ein „Danke, Sie haben uns wie immer sehr geholfen“ in das Mikrofon sprechen.
Eine mögliche Antwort von Dr. Schwarz wurde allerdings von Gröber per Knopfdruck abgewürgt.
Ok, wir haben also eine neue Situation, eine vielversprechende Spur!
Gröber sah zuerst auf die Uhr und dann zu Thomas.
Bierman, die nächsten Schritte sprechen Sie im Team ab und verteilen die Aufgaben. Ich habe einen wichtigen Termin.
Er packte seine Notizen und Unterlagen zusammen und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.
Nachdem die Tür, wie immer eine winzige Spur zu laut, ins Schloss gefallen war, grinste Thomas in die Runde.
Heute ist der Ball der Juristischen Fakultät an der Uni, das ist sein „wichtiger Termin“. Und das Beste: er ist wieder nicht eingeladen worden, sondern nur wegen seiner Frau da.
Woher willst du das wissen?, fragte Sarah nach.
Helen hat es mir vorhin gesteckt.
Helen war eigentlich Gröbers Sekretärin, aber auch Mädchen für alles, bei allen beliebt und kam mit der Rolle als „Frau zwischen den Fronten“ bestens klar.
Er hat sich allem Anschein nach bei ihr ausgeheult. Da wird er wohl wieder den ganzen Abend als „Mann von Frau Professor Tessenbrink“ vorgestellt, weil ihn sonst kein Arsch kennt. – Mensch, nicht mal seinen Namen hat sie angenommen! Irgendwie kann er einem ja schon leidtun.
Na, jetzt übertreib mal nicht, brummte Pfefferle, jeder kommt auf Dauer so rüber, wie er nun mal ist und wir wissen ja...
Können wir nicht einfach die Einsatzbesprechung beenden und dann an die Arbeit gehen?, wurde er ziemlich rüde von Nico Berner unterbrochen.
Pfefferle runzelte sichtlich verärgert die Stirn und Thomas hatte schon den Mund geöffnet, um einen entsprechenden Kommentar loszuwerden, als Karen die Situation gekonnt witzig rettete:
Was ist los, Nico, hast‘ heute Abend eine Maus am Start? Na, dann wollen wir doch seinem Sexualleben nicht im Wege stehen, findet ja eh selten genug statt.
Alle bis auf Nico Berner, der die Augen verdrehte, grinsten unverhohlen.
Nachdem wir das nun geklärt haben..., jetzt blickte auch Thomas auf die Uhr..., es ist kurz nach halb sechs. Mein Vorschlag: Geht nach Hause. Von der Nitrox-Spur verspreche ich mir Einiges. Ich werde schauen, was ich heute noch rausbekommen kann. Ich denke, morgen im Laufe des Vormittages können wir dann bei den entsprechenden Tauchshops unsere Arbeit aufnehmen. Ich schreibe euch per SMS, wo ihr morgen mit den Ermittlungen beginnen könnt. Vorgehensweise ist klar: Wir fragen nach, ob in dem Zeitraum von vor drei Wochen ein Asiate, auf den unsere spärliche Beschreibung passt, regelmäßig oder zumindest öfters Flaschen mit einem Nitroxgemisch befüllen ließ und so ungefähr vor drei Wochen zum letzten Mal da war. Vielleicht kann sich ja jemand an ihn erinnern. Das war es von meiner Seite, mehr können wir im Moment nicht tun.
Einer nach dem Anderen erhob sich. Als Erster verließ Nico Berner den Raum, immerhin nicht ohne ein einigermaßen klares „Schönen Abend zusammen“ gemurmelt zu haben. Auch Hans Pfefferle, Thorsten Neubauer und Karen Polocek verabschiedeten sich und gingen Richtung Fahrstuhl. Sarah blieb noch sitzen und beobachtete Thomas, der noch ein paar Notizen machte.
Soll ich dir bei deiner Recherche noch etwas helfen?, fragte sie nach einer Weile.
Thomas blickte auf und sah sie gedankenversunken an.
Nein, brauchst du nicht. So wie ich das einschätze, ist es kein besonders großer Aufwand herauszufinden, wer hier im Umkreis Nitrox abfüllt.
Ich dachte nur, wenn ich dir helfe, könnten wir hinterher noch etwas trinken.
Sie versuchte, ihn so aufmunternd wie möglich anzuschauen. Er ging auf den Flirt ein.
Die Aussicht auf einen weiteren netten Abend mit dir ist sehr verlockend, sagte er, zumal wir zur Abwechslung über dich und deine dunkle Vergangenheit reden könnten, aber wenn ich hier fertig bin, und das geht vielleicht noch anderthalb Stunden, gehe ich noch ins Krav Maga. Ich habe mich da als Co-Trainer verpflichtet und kann schlecht absagen.
Schade! Wirklich schade, entgegnete Sarah und machte ein enttäuschtes Gesicht.
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