Thomas!, er räusperte sich.
Da wir nicht alle über dein Hintergrundwissen verfügen, sei doch bitte so freundlich und erkläre uns, wieso diese Ergebnisse deiner Meinung nach einen so großen Fortschritt bedeuten.
Die allgemeine Zustimmung der Runde quittierte Thomas mit einem einsichtigen Nicken. Er hatte erkannt, dass er, wie so oft, seine weitreichenden Kenntnisse auf den unterschiedlichsten Gebieten immer auch bei anderen voraussetzte. Mit Äußerungen wie „das ist ja klar“ oder „logisch“ war er dem ein oder anderen Kollegen schon kräftig auf die Füße getreten. Er wandte sich zu Gröber:
Wie ausführlich soll es denn sein? Ich könnte auch nur die Rückschlüsse...
Nein! Auch die Hintergründe.
Gröber sah auf die Uhr.
Ich möchte, dass es jeder versteht.
Thomas schloss für wenige Augenblicke die Augen und schien in diesen Sekunden das recht komplexe Thema in seinem Kopf auf ein verständliches, aber mit einem Höchstmaß an Informationen gefülltes Minimum zu reduzieren. Er nahm einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse geräuschvoll wieder auf den Tisch und ging zu dem Whiteboard am Kopfende des Konferenztisches.
Also gut, dann ein paar Grundlagen zum Tauchen. Normalerweise befindet sich in den Flaschen, die einen Taucher unter Wasser mit Luft versorgen, einfach Pressluft, das heißt, ganz normale Luft, wie wir sie mit jedem Atemzug einatmen. Nur hochkomprimiert. In der Regel auf 200 Bar, es gibt aber auch 300 Bar-Systeme.
Wow, entfuhr es Pfefferle, wenn dir so ein Ding mal um die Ohren fliegt!
Er hatte wie alle anderen eine möglichst entspannte Sitzposition eingenommen, um dem kurzen Vortrag konzentriert folgen zu können. Auch Gröber, der normalerweise, wenn er nichts zu sagen hatte, demonstrativ an seinem Blackberry herumnestelte, hatte sich zurückgelehnt und sah Bierman interessiert an.
Unsere Atemluft besteht im Wesentlichen aus zwei Gasen, nämlich zu 78?% aus Stickstoff, der dem Menschen unter Oberflächenbedingungen nicht weiter schadet, und zu 21?% aus Sauerstoff, den wir ja zum Atmen zwingend benötigen.
Er schrieb die beiden Zahlen mit einem Boardmarker an die weiße Fläche. Der Rest sind unbedeutende Beimengungen. Unter Druck reagiert unser Körper aber auf die Atemgase anders als an der Oberfläche. In Bezug auf den Stickstoff hat das zwei nennenswerte Effekte. Zum einen haben wir den Tiefenrausch, auch Stickstoffnarkose genannt, der je nach Verfassung und Situation ab etwa 30 Meter Wassertiefe auftreten kann und zu Benebelung, Konzentrationsschwäche, Angstzuständen oder auch Euphorien führen kann. Vergleichbar mit der Wirkung einer Droge, ein Rausch eben.
Er vergewisserte sich mit einem prüfenden Blick, ob das Gesagte bei allen angekommen war. Dann fuhr er fort.
Der zweite Effekt ist, was gemeinhin als Taucherkrankheit bezeichnet wird. Der Stickstoff löst sich unter Druck zu einem weit größeren Teil in unserem Blut als an der Oberfläche, und zwar abhängig von der Tiefe und der Zeit, die man in einer bestimmten Tiefe verbringt. Hat sich der Stickstoff im Blut gelöst und taucht der Taucher schnell oder zu schnell auf, perlt der Stickstoff im Körper aus, vergleichbar mit dem Öffnen einer Sektflasche. Das zieht im weniger schwerwiegenden Fall Muskel- und Gelenkschmerzen nach sich, kann aber auch tödliche Folgen haben.
Deswegen machen Taucher beim Auftauchen die Zwischenstopps auf einer geringen Tiefe?
Karen Polocek hatte nicht nur aufmerksam zugehört, sondern offensichtlich auch schon mal etwas von der Materie gehört.
Richtig! Diese sogenannten Dekompressionsstopps in geringer Tiefe ermöglichen es, den Stickstoff wieder aus dem Blut auszuscheiden, ohne dass es zu dem Sektflascheneffekt kommt. Dekompressionstauchgänge sind zwar mittlerweile Gang und Gäbe, aber sie sind natürlich weitaus risikoreicher als Tauchgänge im sogenannten Nullzeit-Bereich.
Was genau bedeutet Nullzeit-Bereich?, wollte Sarah wissen.
Die Nullzeit ist die Zeit, die sich ein Mensch auf einer bestimmten Tiefe maximal aufhalten darf, um ohne Dekompression, also zu jedem Zeitpunkt, sofort wieder auftauchen zu können. Früher musste man das Tauchprofil genau planen, heute hat man in der Regel einen Tauchcomputer am Handgelenk, der einem immer genau sagt, wie lange man noch in der momentanen Tiefe verbleiben kann, ohne zu dekomprimieren. Ein solches Gerät zeigt auch Tiefe und Dauer eines Dekostopps an, wenn denn einer vonnöten werden sollte.
Sarah, die gern Menschen zuhörte, wenn sie begeistert von einem Thema sprachen, über das sie sich auskannten, ließ Thomas nicht aus den Augen. Er war in seinem Element.
Pfefferle lehnte sich voller Eifer nach vorne.
Aha, und jetzt kommt wohl der erhöhte Sauerstoffanteil beim Nitrox-Atemgemisch ins Spiel! Ich könnte wetten, dass man damit die Nullzeiten erhöhen kann. Richtig?
Auch er hatte genau aufgepasst und die richtigen Schlüsse gezogen. Thomas nickte anerkennend.
Sehr gut! Das liegt daran, dass die Wirkung der Gase auf den menschlichen Körper nicht vom Gesamtdruck, sondern vom sogenannten Partialdruck abhängt. Dieser wiederum steht in direktem linearen Zusammenhang mit dem Anteil des Gases am Gesamtgemisch.
Wie habe ich das zu verstehen? Gröber hakte nach.
Am besten mal ein Beispiel. Wir haben hier an der Oberfläche so in etwa 1 Bar Luftdruck. Da der Stickstoff 78?% der Atemluft ausmacht, haben wir für den Stickstoff an der Oberfläche einen Partialdruck von ca. 0,78 Bar. Nun ist es so, dass je 10 Meter Wassertiefe der Gesamtdruck um 1 Bar zunimmt. Das heißt, in einer Tiefe von 20 Metern haben wir einen Gesamtdruck von ca. 3 Bar.
Er schrieb die Zahlen an die Tafel. Nun war es Sarah, die kombinierte:
Wenn ich das richtig verstehe, bedeutet das, dass in 20 Meter Wassertiefe ein Stickstoffpartialdruck von drei mal 0,78, macht ca. 2,4 Bar, haben.
2,34 Bar, um genau zu sein.
Thomas lächelte sie an und in seinen Augen lag die Aufforderung, den Gedanken weiterzuspinnen.
Das würde bedeuten, wenn man, wie unser Toter es getan hat, den Stickstoffanteil des Atemgases durch die Zugabe von Sauerstoff auf 60?% senkt, hätte man in 20 Meter Tiefe nur noch einen Stickstoffpartialdruck von drei mal 0,6, macht nur noch 1,8 Bar. Damit löst sich weniger Stickstoff im Blut und wir haben die gewünschte Verlängerung der Nullzeit. Sprich, wir können länger unten bleiben.
Summa cum Laude, lobte Thomas und schrieb die Berechnung für alle verständlich an.
Genauso verhält es sich.
Und wieso taucht man dann nicht mit 100?% Sauerstoff? Wäre doch praktisch: Kein Tiefenrausch, keine Dekompression, und mit genügend großem Vorrat könnte man fast unbegrenzt unter Wasser bleiben.
Sichtlich von dem Thema interessiert war es Karen Polocek, die noch weitere Informationen haben wollte. Thomas setzte schon zur Erklärung an, Gröber winkte jedoch ab.
Bringt uns das in Bezug auf den Fall weitere Erkenntnisse?, fragte er.
Thomas nickte.
Ja, vielleicht nichts Bahnbrechendes, aber es kann uns zumindest ein weiteres Detail liefern.
Also gut, dann legen Sie los, knurrte Gröber, und im Anschluss erläutern Sie uns endlich, was an all dem nun so wichtig ist.
Thomas nahm sich einen anderen Stift und wandte sich wieder den Kollegen zu.
Gut! Die Frage von Karen ist sehr berechtigt, klingen die Fakten bezüglich der Dekompression und des Tiefenrausches doch recht verlockend! Die Sache hat nur einen Haken: Nicht nur der Stickstoff hat unter Druck eine andere Wirkung auf den Organismus, sondern auch der Sauerstoff. Man spricht hier vom Paul-Bert-Effekt: Das für uns lebensnotwendige Gas wird nämlich ab einem Partialdruck von etwa 1,6 Bar schwer toxisch. Und zwar ziemlich plötzlich und ohne Anzeichen. Eine solche Sauerstoffvergiftung führt in kürzester Zeit zu schweren Krampfanfällen bei komplettem Verlust der Koordination. Wir sprechen hier von einem Zeitraum von wenigen Sekunden! Über die Dauer von Minuten kann das Überschreiten des Partialdrucks von 1,6 Bar unter Wasser natürlich tödliche Folgen haben! Um eine gewisse Sicherheitsreserve zu haben und weil auch hier, wie beim Tiefenrausch, die individuelle körperliche Konstitution und besonderen Umstände der jeweiligen Situation eine Rolle spielen können, wird in der Tauchtiefenberechnung in der Regel sogar von einem Wert von 1,5 Bar ausgegangen, beim Sporttauchen sogar zum Teil von 1,4.
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