Christina Kettering
Berge versetzen
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2 D | 3 H und ein Berg
Der pure Wille könne Berge versetzen. So erzählt es eine alte chinesische Fabel und daran glaubt Margot, die ehemalige Clubbetreiberin, die ihre Utopie eines gemeinschaftlichen Wohnens für die älter werdende urbane Kulturschickeria umsetzen will.
Flexibel, kreativ und fantasievoll soll der Bau sein und genauso seine zukünftigen Bewohner. Und selbst der Widerspruch von Stadt und Land soll hier endlich aufgehoben werden. Den idealen Standort hat sie bereits ausgemacht. Ein Stadtberg, authentisch und geschichtsträchtig.
Bloß die Randlage ist ein Ärgernis, und deshalb soll er an zentralere Stelle versetzt werden. Der Berg aber entwickelt ein Eigenleben und widersetzt sich seiner Umsiedlung.
Auch der Aussteiger Seliger und die Pflegeassistentin Merle widersetzen sich – jeder auf seine Weise. Währenddessen würde Merles Freund Jonas gerne dazugehören. Zu der Gemeinschaft der Kreativen und Flexiblen, zu denen, denen ein besseres Wohnen vergönnt ist. Die aber wollen ihn nicht.
Ein surreal-poetisches Stück über Einsamkeit, die trügerische Illusion einer Utopie, die Unvollkommenheit zwischenmenschlicher Beziehungen und das Schweben einer Seele.
PERSONEN
Seliger
Merle
Jonas
Margot
Josh
und:
ein Berg
Seliger liegt
SELIGER
Da lieg ich. Wo der angelegte Weg in Serpentinen den Berg raufführt, wo ein schmaler Pfad abgeht ins Gebüsch, in den Wald, wo man stolpert über Stahl und Beton und Scherben, die sich durch die Erde fressen, wo verschmutzte Taschentücher, Kondome, Tabakverpackungen liegen. Dort, wo versteckt zwischen den Bäumen, unter den Ästen eines Brombeerstrauchs, das blaue Zelt steht.
Dort lieg ich.
Oberkörper im Zelt, Beine draußen, im Schlamm.
Geregnet hat es die Nacht durch.
Da lieg ich und rühr mich nicht.
Wir bauen eine Stadt
MARGOT
Wir haben hier ernsthaft eine Vision
ja eine Vision
das kann
das muss man so sagen
heute braucht es Visionen mehr denn je
ohne Visionen stehen wir nackt vor den Zumutungen der Welt
ohne Visionen haben wir unserer Verwertung nichts entgegenzusetzen
sind wir immer nur Opfer der Ereignisse
ja
lasst uns groß denken
lasst uns Schöpfer sein
lasst uns gestalten
umgestalten
heute stechen wir den Spaten in die Erde
heute tragen wir das erste Stück Berg symbolisch ab
heute blicken wir von hier oben auf die Stadt und sagen
das alles wird einmal uns gehören
Seltsame Gestalten streifen umher:
Männer und Frauen mit Katzenohren, Glitzerschminke, blauen Perücken, Elfenflügeln, silbernen Ganzkörperanzügen, goldenen Motorradhelmen, Zylindern, usw.
MARGOT
Das ist eine kleine Revolution
nein eine große
heute bauen wir eine neue Stadt
wir krempeln hier alles um
wir machen uns die Welt
widdewidde
miau
Und der Spaten sticht in die Erde
Und Palais Schaumburg singen:
Wir bauen eine Stadt
Wir bauen eine Stadt
Wir bauen eine Stadt
Wir bauen eine Stadt
Gibst du mir Steine, geb ich dir Sand
und eine Frau steht auf einem Berg und blickt über die Stadt
und in der Stadt ist die Nacht fast vorbei
und eine andere Frau geht nach Hause
MERLE:
Um vier geht die Sonne auf, immerhin, im Sommer ist es leichter, ich kann eh nicht schlafen auf dem schimmligen Sofa, die Gruschitz wird jede halbe Stunde wach und ruft nach mir, meistens ist nichts, die will halt Aufmerksamkeit, um vier fängt die Sonne an aufzugehen und um sechs ist die Schicht vorbei, dann ist es hell, in der Bahn die zugekoksten Fratzen von den Partygängern, einer kotzt in die Ecke, zwei lachen hysterisch, die Kotze liegt brockig im U-Bahnlicht, der Typ wankt und weicht dem Haufen grad noch aus, das hysterische Lachen geht in Kreischen über, dann Gesang, wenn man das so nennen will, ich starr´ aus dem Fenster raus, aber da ist nur der dunkle U-Bahnschacht, Schicht im Schacht denk ich , Schichtende im Schacht, und so weiter, im Kopf ist die Schicht nicht zu Ende, die trägst du mit raus, die trägst du mit ins Bett und wenn du sie endlich abgeschüttelt hast beginnt schon fast die nächste, es ist eine unendliche Aneinanderreihung von Schichten, Spätschicht Frühschicht Mittelschicht Unterschicht Gesellschaftsschicht Schicht um Schicht das bloßgelegte Fundament unseres Lebens Schichtkuchen Erdschicht ich glaub ich muss ins Bett.
Rhythmen
MERLE
Ich hab Brötchen mitgebracht
JONAS
Ich hab geschlafen
MERLE
Sie sind noch warm
JONAS
Du hast mich geweckt
MERLE
Die Stadt wird immer schmutziger
Morgens um halb sechs ist sie einfach nur hässlich
JONAS
Ich schlafe weiter
MERLE
Alle pissen und kacken hin wo sie wollen
JONAS
Du bist so schön
du gleichst das wieder aus
MERLE
Du redest eine Scheiße
das ist nicht auszuhalten
JONAS
Leg dich hin
Sei ruhig
MERLE
Ich kann nicht
JONAS
Ich muss gleich raus
lass mich schlafen
MERLE
Manchmal stelle ich mir das vor
wir beide zusammen frühstückend
frische Brötchen
Kaffee
die Sonne
die sich den Himmel hinauf arbeitet
JONAS:
Am Wochenende
MERLE
Am Wochenende ist mein Schlafrhythmus so was von im Arsch
JONAS:
Leg dich einfach hin und schlaf
MERLE
Ich rieche nach alter Frau und Desinfektionsmittel
ich kriege den Scheiße-Geruch nicht aus meiner Nase
meine Haut fühlt sich fahl an und aufgedunsen
als hätte ich das von ihr abbekommen
so wie die Haut ist
wenn man wahnsinnig schwitzt
bei Fieber zum Beispiel
und dick in Wolle eingewickelt ist
kennst du das
wie wenn man mehrere Lagen Filz trägt und
wahnsinnig schwitzt
als wäre man ein Kunstobjekt von Beuys
eingewickelt in Filz und Fett
Jonas
Pause
Eingeschlafen
und während Merle wach liegt tanzt Margot auf einem Stadtberg in den Tag hinein
MARGOT
Jede Veränderung beginnt mit einer Utopie
Natur und Stadt
sind für uns keine Gegensätze
dieser Berg
das alles hier
und die entstehenden Gebäude
kann alles neu
zu leben beginnen
ein musikalisches Herz
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