„Lass den Kopf unten. Tu dir das nicht an.“ Ich muss mir diese lauten Selbstgespräche dringend abgewöhnen. Es verrät so viel, über die Sache, über den Menschen, über den Zustand des Menschen. Zum Glück bin ich allein, hat mich niemand belauscht.
Mein Kopf schmerzt. Ich habe ihn zu schnell, zu energisch in den Nacken gerissen, habe es also doch getan. Die Beleuchtung über dem Spiegel ist grell, offenbart erbarmungslos die Nacktheit meines Gesichts. Ich erkenne mich nicht oder will ich mich nicht wiederfinden? Die weichen, runden Gesichtszüge ausgetauscht gegen eingefallene, schlaffe Konturen, der rosige Teint binnen Stunden verwandelt in talgige, schrumpelige Haut, die einst strahlenden, dunklen Augen, tot, die welligen Haare, mein einziger Stolz, strähnig und kraftlos an der Kopfhaut klebend. Der unvorteilhaften Beleuchtung kann ich nicht die Schuld für mein Aussehen geben, so wie ich das immer gerne in fremden Bädern, manchmal nach durchwachter Nacht getan habe. Oder jeden Morgen im letzten Urlaub. Im Spiegel kann ich die Dusche sehen, die sich hinter mir in der Ecke befindet. Die Duschwand ist zugezogen. Alles kommt mir auf einmal bekannt vor, hat beängstigende Ähnlichkeit mit Bildern, die sich vor meinem Auge aufreihen, Bilder aus unserem Urlaub, dem letzten.
Dort war die Duschwand morgens immer zugezogen. Leif hatte sich die Kabine als Spielplatz ausgesucht. Nein, das ist falsch. Ich sollte mir nichts vormachen. Leif suchte sich keine Spielplätze, Leif hielt nach Tatorten Ausschau. Mit der Dusche hatte er damals einen idealen Ort gefunden.
Entsetzt fahre ich herum, zerre ein Handtuch vom Bügel, halte es mir vor den Körper, bin mit zwei Schritten an der Duschverkleidung, reiße sie auf und starre in das leere Becken. Schweißgebadet lasse ich mich auf den kleinen Hocker fallen. Was hatte ich denn erwartet? Leif kreischend in der Wanne? Blödsinn.
Irritiert betrachte ich das Handtuch in meiner Hand. So habe ich immer versucht, mich zu schützen, damals, im Urlaub.
Wenn ich das Bad betrat, saß er schon da. Ich konnte durch die leicht transparente Duschwand seine Umrisse sehen. Frank und ich haben nie mitbekommen, wann er sein Zimmer verlassen hatte. Unsere Hotelsuite war riesig, verwinkelt. Es war ein leichtes für Leif, sich unbemerkt aus seinem Zimmer zu schleichen. Leif beherrschte beides, laut und leise. Ich hatte mir einige Male nachts den Wecker gestellt, um zu sehen, ob mein Kind noch in seinem Bett lag. Natürlich lag er, aber irgendwann eben nicht mehr, da saß er in der Dusche und wartete auf mich. Frank schlug vor, die Badezimmertür abzuschließen oder Leif einfach einzuschließen. Ich lehnte strikt ab. Es war nicht erforderlich, eine Begründung anzuführen. Sie war uns beiden unausgesprochen bekannt. Es ging uns nicht um die Sachschäden, die Leif unweigerlich herbeigeführt hätte, sondern um die Peinlichkeit, die Entstehung zu erklären, ohne unseren Sohn bloßzustellen.
So vollzog sich jeden Morgen das gleiche Drama. Ich betrat das Bad, sah meinen Sohn, schnappte mir ein Handtuch und öffnete die Duschverkleidung. Der Wasserstrahl, den er auf mich richtete, war mal eisigkalt, mal glühend heiß. Nach einigen Tagen wusste ich, was mich erwartete, wenn die Dusche dunstig beschlagen war. Irgendwie hatte er es immer geschafft, sich selbst nicht zu verbrühen.
„Verdammt noch mal, hör auf, stell das aus. Das ist nicht lustig.“
So oder ähnlich habe ich damals stereotyp geschrien. Ja, damals, und warum schreie ich jetzt?
Mein Sohn, mein hübscher, kleiner Sohn, hörte nicht auf. Er lachte, er richtete den Strahl auf den Spiegel, die Wände, wieder auf mich. Jedes Mal packte ich ihn am Arm und versuchte, ihn aus der Dusche zu ziehen. Das erwies sich oft als schwierig. Mal hatte er sich mit Zahncreme, Sonnenöl oder sonstigen glitschigen Schweinereien eingeschmiert, und er entglitt mir. Wenn Frank dazukam, hatte er mehr Erfolg. Irgendwann, gegen Ende des Urlaubs, ließ ich meinen Sohn einfach in der Wanne sitzen. Es war mir egal. Ich wusch mich im Waschbecken und ging an den Strand, ohne Kind. Frank blieb bei ihm.
Vielleicht habe ich mich deshalb vorhin der Waschaktion der Krankenschwester verweigert.
„Ach, hier sind Sie. Ich habe Sie sprechen hören und dachte, Sie hätten Besuch. Na, auf der Toilette wäre das ja schon ein bisschen seltsam. Kommen Sie alleine klar oder brauchen Sie Hilfe?“
„Nein, nein danke. Es geht schon.“
Schnell erhebe ich mich von dem Hocker und drücke energisch die Tür zu.
„Mein Gott, was ist denn hier passiert? Hier ist ja alles voller Glasscherben. Warum haben Sie denn nicht geklingelt? Wir hätten das doch gleich weggemacht“, dringt die leicht erregte Stimme der Krankenschwester durch die geschlossene Badezimmertür zu mir vor.
„Sind Sie verletzt? Haben Sie sich geschnitten?“, steht sie wieder in der Tür und betrachtet meinen nackten Körper.
„Nein.“
„Sie müssen sich doch nicht am Waschbecken waschen. Sie können doch duschen. Das Duschgel auf der Ablage hat Ihre Freundin gestern Abend mit ein paar anderen Sachen vorbeigebracht. Sie ist ganz spät noch einmal hier gewesen, aber Sie haben geschlafen. Wir mussten Ihnen ein Beruhigungsmittel geben. Erinnern Sie sich daran?“
Gleichgültig ergreife ich die Flasche, betrachte wissend das Firmenlogo und stelle sie wieder zurück.
„Weil Sie gestern Abend ja nicht mehr ansprechbar waren, hat Ihre Freundin uns gebeten, Ihnen etwas auszurichten. Ihr Mann kommt nicht. Nur den einen Satz: Ihr Mann kommt nicht. Sie wüssten dann schon Bescheid.“ Verunsichert lächelnd steht sie da vor mir. Ihr Wunsch um Aufklärung ist nicht zu übersehen.
Ich sollte mich über die Nachricht freuen, ist es doch genau das, was ich wollte. Hinzu kommt für mich die wichtige Erkenntnis, dass Elli doch zu mir hält und sich gegen Frank durchgesetzt hat. Erleichtert drehe ich den Wasserhahn auf und habe für einen kurzen Augenblick die Krankenschwester vergessen.
Was ist, wenn er gar nicht kommen wollte? Wenn sein Fernbleiben überhaupt nichts mit Ellis Bemühungen zu tun hat? Erschreckt schlage ich mit der Hand auf den Hebel der Wascharmatur und beende so das nervige Geplätscher. Angst macht sich in mir breit. Warum, warum, warum? Müsste ich bei dem Gedanken nicht Erleichterung oder zumindest Gleichgültigkeit empfinden? Meine Angst schlägt in Wut um. Er will also auch nichts mehr von mir wissen. Umso besser. Das erleichtert so einiges, rede ich mir trotzig ein. Elli würde jetzt sagen,
„Worauf warten Sie noch? Sie wollten doch die Scherben beseitigen. Dann tun Sie es auch und zwar jetzt“, brülle ich die Krankenschwester an, die noch immer auf Erklärung hoffend in der Tür steht. „Und schließen Sie gefälligst die Tür hinter sich, aber schnell, wenn ich bitten darf.“
„Auch wenn es Ihnen psychisch sehr schlecht geht, muss ich mir nicht gefallen lassen, dass Sie mich wie Ihre Putzfrau behandeln. Ich hoffe nur, dass die arme Frau von Ihnen nicht so arrogant runtergeputzt wird.“ Mit hochrotem Kopf wendet sich die Schwester zum Gehen, wirft mir noch einen verachtenden Blick zu und zieht die Tür hinter sich geräuschvoll ins Schloss.
Ich stehe immer noch nackt vor dem Waschbecken und schäme mich. Nicht wegen meiner Blöße, nein, für mein ungebührliches, aufgeblasenes, demütigendes Auftreten. Ich drehe erneut den Hahn auf, lasse das Wasser so lange fließen, bis es mir eiskalt über die Finger läuft. Statt mich zu beruhigen, steigert sich mein Schuldgefühl. Es ist aber nicht nur die eine Schuld, die ich soeben auf mich geladen habe. Ich werde von ganzen Wagenladungen davon erdrückt. Ich ergreife die Waschlotion und setze zögernd einen Fuß in die Dusche.
„Frau Stolpe ist da drinnen im Bad.“
„Geht es ihr den Umständen entsprechend besser?“
„So wie sie sich aufführt, müsste es ihr wieder blendend gehen. Na ja, wahrscheinlich täuscht das nur.“
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