»Hunde seid ihr«, sagte der blinde Mullah zu den aufhorchenden Stammeshäuptlingen am Lagerfeuer. »Verprügelte Hunde! Ihr habt auf Orde Sahib gehört und ihn Vater genannt; ihr habt euch benommen wie seine Kinder. Die britische Regierung hat jetzt bewiesen, wie sie euch einschätzt. Ihr wißt: Orde Sahib ist tot.«
»Ai! Ai! Ai!« klagte ein halbes Dutzend Stimmen.
»Ja, er! Er war ein Mann! Aber wer, glaubt ihr wohl, kommt jetzt an seine Stelle? Ein Bengali aus Bengalen - ein Fischfresser aus dem Süden!«
»Das ist eine Lüge!« sagte Khoda Dad Khan. »Wenn du dich noch länger als Priester patzig machst, stoß ich dir meinen Gewehrkolben in den Hals.«
»Oho, bist du auch da, du englischer Speichellecker?« höhnte der Mullah. »Geh nur morgen über die Grenze hinüber und biete deine Dienste dem Nachfolger Orde Sahibs an. Aber vergiß nicht, vor dem Zelteingang deine Schuhe auszuziehen! Es ist das Sitte, wenn man ein Geschenk in die schwarze Pfote eines Bengalen legt. Ich weiß das! In meiner Jugend hätte man einem Burschen den Gewehrkolben in den Hals gerannt, wenn er gewagt hätte, einen Mullah zu schmähen, der die Tür zu Himmel oder Hölle in der Hand hat.«
Der blinde Mullah haßte Khoda Dad Khan, wie nur ein Afghane hassen kann, denn beide waren Rivalen um die Vorherrschaft über den Stamm: den einen fürchtete man wegen seiner körperlichen Eigenschaften, den anderen wegen seiner geistigen. Khoda Dad Khan warf einen Blick auf Ordes Ring und grunzte: »Morgen gehe ich hin. Ich bin kein solcher Narr, Krieg gegen die Engländer zu predigen. Aber, wenn die Regierung wirklich verrückt geworden ist, dann -«
»Was dann?« krächzte der Mullah, »wirst du dann die jungen Leute aufrufen und die vier Dörfer im Grenzland besetzen?«
»Oder vielleicht dir wegen Verbreitung von Lügen den Kragen umdrehen, du schwarzer Rabe der Hölle!«
Khoda Dad Khan ölte sorgfältig seine langen Locken, zog seinen besten Buchara-Gürtel an, einen neuen Turban und schöne grüne Schuhe und stieg, begleitet von ein paar Freunden, die Berge hinab, um dem neuen Deputatskommissar von Kot-Kumharsen seinen Besuch abzustatten. Auch nahm er als Tribut vier oder fünf unschätzbare, goldene Mohurs aus den Zeiten des Kaisers Akbar mit - in ein weißes Schnupftuch gewickelt. Der Deputatskommissar hatte sie zu berühren und zurückzugeben. Die Zeremonie bedeutete, daß die Khusru Kheyl sich brav zu benehmen versprachen - in der nächsten Zeit, und vorausgesetzt, daß Khoda Dad Khan am Ruder blieb und ihm der neue Deputatskommissar auch sympathisch war. Solange Yardley-Orde an der Spitze stand, schloß der Besuch jedesmal mit einem solennen Festessen, gewürzt mit - wahrscheinlich verbotenen - Schnäpsen, für alle Fälle aber mit einigen wundervollen Erzählungen und Versicherungen unverbrüchlicher Freundschaft. Khoda Dad Khan befestigte sodann stets zu Hause seine Herrschaft aufs neue durch überschwengliche Schilderung des prunkvollen Empfangs, der ihm bereitet worden, nannte Orde Sahib und Tallantire königliche Prinzen und schwor, jedem bei lebendigem Leib die Haut abziehen zu lassen, der es wagen sollte, einen Raubzug in britisches Gebiet zu veranstalten. Diesmal schien alles beim alten geblieben zu sein: das Zelt des Deputatskommissars sah genauso aus wie früher, und da Khoda Dad Khan sich selbstverständlich dazu für berechtigt hielt, trat er ohne weiteres durch die offene Tür ein. Gleich darauf erblickte er einen dicken, süßlich lächelnden Bengali, der an einem Tische saß und schrieb. Völlig unwissend, welch erhebenden Einfluß eine sorgfältige Erziehung auf den Menschen ausübt, und überdies gänzlich verschlossenen Gemütes gegenüber Würden, die die Universität verleiht, schätzte Khoda Dad Khan den Mann als Babu - den eingeborenen Kommis des Deputatskommissars und das gehaßteste und verächtlichste Geschöpf - ein.
»Heda!« rief er in aufmunterndem Ton, »wo ist dein Herr, Babudschu?«
»Ich bin der Deputätskommissar«, antwortete der Gentleman auf englisch. Offenbar überschätzte er den Einfluß seiner Universitätswürden, sonst hätte er kaum Khoda Dad Khan so fixiert, wie er es jetzt tat. Wer nun aber gewohnt ist, von frühester Kindheit an Schlachtgetümmel, Mord und Totschlag vor Augen zu haben, und auf wessen Nerven vergossenes Blut nicht mehr Eindruck macht als rote Farbe, wer überdies, wie Khoda Dad Khan, felsenfest glaubt, daß ein Bengali der Sklave aller Hindustanis ist, die an und für sich schon tiefer stehen als das eigene große lebensfrohe Ich, der hält so manchen Blick aus, auch wenn er keine Erziehung genossen hat. Er kann auch einen graduierten Oxfordstudenten in Grund und Boden starren, gar, wenn dieser, physisch widerstandslos, Unbehaglichkeiten fürchtet wie manche Menschen die Sünde, und als Kind schon in den Schlaf geschreckt wurde mit Ammenmärchen von Teufeln, die in Afghanistan und dem schwarzen Norden hausen. Es dauerte denn auch nicht lange und die Augen hinter der goldenen Brille suchten den Fußboden! Khoda Dad Khan lachte kurz auf, machte kehrt und schritt hinaus, um gleich darauf Tallantire zu begegnen. »Hier«, sagte er rauh und hielt die Münzen hin, »berühre du sie und gib sie zurück! Das soll die Gewähr sein, daß ich für meine Person mich gut betragen will. Aber, o Sahib, hat denn die Regierung den Verstand verloren, daß sie uns einen schwarzen Bengalihund schickt? Und ich soll einem solchen Dienste leisten?! Und du arbeitest unter ihm? Was soll denn das heißen?«
»Es ist Befehl«, sagte Tallantire; er hatte ähnliches kommen sehen. »Er ist ein sehr geschickter S-sa-hib.« »Der und ein Sahib?! Ein kala admi ist er, ein Farbiger, und unfähig, einen Geschirrwagenesel am Schwanz festzuhalten! Alle Völker der Erde haben Bengalen geschröpft. Das ist sprichwörtlich. Wohin sind wir aus dem Norden denn gegangen, wenn wir Weiber brauchten oder plündern wollten? Nach Bengalen! Wohin sonst? Was ist das für ein Kindergeschwätz von Sahibwürde, gar jetzt, nachdem Orde Sahib hier geherrscht hat! In einer Beziehung hat also der blinde Mullah recht gehabt.«
»Was ist's mit ihm?« fragte Tallantire betroffen; er mißtraute dem Alten mit den toten Augen und der tödlichen Zunge.
»Nun, da ich Orde Sahib Treue geschworen habe, als er starb drüben am Fluß, will ich es dir sagen. Aber zuerst: ist es wahr, daß die Engländer sich selbst die Ferse dieses Bengali in den Nacken gesetzt haben und englische Herrschaft nichts mehr gilt hier im Land?«
»Ich bin doch hier!« sagte Tallantire, »und ich diene der Maharani von England.«
»Der Mullah sagt anders: weil wir Orde Sahib geliebt haben und uns seiner starken Hand gefügt, habe die Regierung ein Schwein hergeschickt, um uns zu zeigen, daß wir Hunde sind. Dann heißt es: die weißen Soldaten werden zurückgezogen und durch Hindustanis ersetzt. Kurz: alles soll anders werden.«
Nichts ist schlimmer, als ein großes Land falsch behandeln! Sieht etwas noch so vernünftig aus in Kalkutta, so richtig in Bombay, so angebracht für Madras - für den Norden bedeutet es einen Schlag ins Gesicht und bringt das Uferland des Indus außer Rand und Band. Khoda Dad Khan erklärte, so gut er konnte, daß wohl er selbst die besten Absichten habe, aber nicht einstehe für die weniger überlegten Häuptlinge seines Stammes, zumal diese fast alle unter dem Einfluß des blinden Mullahs stünden. Ob es nun Aufstände geben würde oder nicht, keinesfalls dächte auch nur einer daran, dem neuen Deputatskommissar Gefolgschaft zu lei sten, dessen sei er sicher. Und ob denn Tallantire wirklich meine, daß für den Fall eines regelrechten Grenzüberfalles die vorhandenen Regierungsstreitkräfte genügten?
»Richte dem Mullah aus«, sagte Tallantire kurz, »wenn er noch weiter so dummes Zeug schwatzt, jagt er seine Leute nur in einen sichern Tod und seinen Stamm der Blockade entgegen, der Kontribution und der Entrichtung von Blutgeld. Aber was soll ich noch länger diskutieren mit jemand, dessen Stimme kein Gewicht mehr hat im Rate der Stämme!«
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