So manches Mal hatte Christina überlegt, ihren Beruf ganz aufzugeben. Aber sollte sie wieder in irgendeinem Callcenter arbeiten, nur um endlich vom Jobcenter los zu kommen? Das hatte sie mehrmals probiert und einen Tinitus davon getragen. Sie hatte den Job ohnehin nicht ausgehalten. Anderen Leuten Sachen aufzudrängen, die die ganz bestimmt nicht brauchten, war nicht das was sie gut konnte. Sie hatte sich immer nur durch einen solchen Job geschleppt und nicht wesentlich mehr verdient als jetzt. Christina entschließt sich, sich einen guten Tee aufzubrühen und sich an ihren Text zu machen. Vorher noch eine Runde autogenes Training um den Kopf wieder frei zu kriegen von den quälenden Gedanken an das Jobcenter und ihre finanziellen Probleme.
Den PC stellt sie schon mal an. Der braucht auch immer länger um warm zu laufen. Längst wäre ein neuer Computer fällig. Ihrer ist bereits ein technischer Methusalem, da muss sie Thomas Recht geben. Ein Laptop wäre richtig toll, aber das Geld dafür hat sie noch nicht zusammen. Die Auftragslage ist derzeit einfach besch...eiden. Hinzu kommt, dass die Zeilen- und Pauschalhonorare so gering sind, dass man Tag und Nacht arbeiten müsste, um davon gut leben zu können, wenn man denn genug Aufträge bekäme. Die Gewerkschaft setzt sich auch nicht so richtig ein. Weg mit den deprimierenden Gedanken. Wenn das mal so einfach wäre. 'Rechtes Bein ist schwer.... Linker Arm ist schwer, linker Arm ist schwer wie Blei...Ob sie das leidige Thema Honorare für Freie beim nächsten Gewerkschaftstreffen nicht doch noch mal ansprechen sollte? Ruhig, ganz ruhig konzentrieren auf das autogene Training'.
Sie hat sich einen richtig guten Darjeeling gegönnt, der jetzt in ihrer Lieblingstasse dampft und köstlich duftet in der von Hand getöpferten Tasse, die sie sich vor zwei Jahren aus Usedom mitgebracht hatte. 'Na dann los'! Christina sichtet ihre Notizen von der Betriebsversammlung im Kaufhaus Weber. Da war die Rede davon gewesen, dass die Probleme begonnen hatten, als der Konzern die Kaufhausgebäude verkauft hatte, um sie anschließend zurück zu mieten. Für nicht minder schlüssig hielt sie die Aussage, dass die Gläubigerbanken sich weigerten die Kredite nicht, wie bisher üblich, zu erneuern. Die Geschäftsleitung hatte dem Betriebsrat auf den Weg gegeben, dass die Angestellten in diesem Jahr freiwillig auf das Weihnachtsgeld und das Urlaubsgeld verzichten könnten ebenso auf die Tariferhöhungen, die bereits im vergangenen Jahr vereinbart waren. Der Vorschlag war heftig diskutiert worden mit dem Ansinnen, dass sich dann auch das Management auf eigenen Verzicht einlassen müsste. Die Stimmung ging aber wohl mehr in die Richtung sich lieber auf Kürzungen einzulassen, wenn damit die Schließung abgewendet werden könnte, als die Arbeit zu verlieren. Sie muss Ritter anrufen und die genaue Anzahl der gefährdeten Arbeitsplätze erfragen.
„Ritter.“
„Guten Morgen Herr Ritter, hier spricht Christina Stratmann.“
„Ach, guten Morgen Frau Stratmann, was kann ich Gutes für Sie tun?“
Bei einer Insolvenz wären es an diesem Standort 591 Arbeitsplätze, die verloren gingen, einschließlich der Verwaltung und Geschäftsführung, sagt Alfons Ritter. Allerdings hoffe er zuversichtlich, dass es dazu nicht komme. Zweckoptimismus? Oder glaubt er wirklich daran?
„Waren nicht ursprünglich mehr Arbeitsplätze versprochen worden? So lange ist das doch noch gar nicht her als es hieß, das Unternehmen bringe 1000 Arbeitsplätze in die Stadt.“
Ja, das stimme schon, die Zusagen waren Bedingung für die Förderung von 1,5 Millionen Euro.
„Bis jetzt sind aber erst diese 591 Stellen eingerichtet. Die meisten Mitarbeiter wurden aus alten Häusern übernommen.“
„Zu den selben Arbeitsbedingungen?“
„Wo denken Sie hin, natürlich zu schlechteren Bedingungen und niedrigeren Löhnen“, Ritter redet sich in Fahrt.
Auch von den versprochenen Qualifizierungen sei inzwischen nicht mehr die Rede. Vor einigen Wochen erst hatte er den Geschäftsführer wieder auf Qualifizierungsmaßnahmen angesprochen, vor allem für die Frauen, die längere Zeit wegen der Kindererziehung pausiert hatten und für diejenigen, die längere Zeit arbeitslos gewesen waren. Es hatte geheißen, dass die finanzielle Lage angespannt sei und man erst abwarten wolle, wie sich die Situation entwickle. Ja, sie habe Recht, auch das Management habe ein Interesse daran, dass es nicht zur Schließung des Hauses komme, denn sonst bestünde Gefahr, dass die Förderung zurückgezahlt werden müsse. Für die nächste Woche habe ihn die Geschäftsführung zu einem Gespräch über die neueste Entwicklung eingeladen. Übermorgen werde nämlich noch einmal mit den Banken verhandelt. Er hoffe, seinen Kollegen danach über eine positive Entwicklung berichten zu können.
„Ich kann Sie ja anrufen, wenn es etwas Neues gibt.“
Wo zum Kuckuck hatte sie gestern nur ihre Geldbörse hingelegt? Christina geht ins Arbeitszimmer und schaut auf dem Schreibtisch nach. Oh je, diese Unordnung. Noch bis zum späten Abend hatte sie über den Papieren gesessen, verglichen und nachgerechnet wo das Jobcenter jetzt wieder den Rechenfehler eingebaut hatte. Und ihn schließlich gefunden. Ihr waren Reisekosten, die ihr die Redaktion erstattet hatte, für einen Termin außerhalb, angerechnet worden. Da sie das Geld für die Fahrt hatte ausgeben müssen, durften sie das nicht berechnen. Gut, dass sie noch eine Kopie der Fahrkarte aufbewahrt hatte. Die allerdings hatte sie dem Antrag auch schon beigelegt. Es würde ihr wohl für immer ein Rätsel bleiben, in welchen geheimen Kanälen Teile und Anlagen für die Anträge beim Jobcenter regelmäßig verschwinden.
Schnell die Unterlagen in die Tasche packen. Und genau da findet sie ihre Geldbörse. Sie hatte sie also gestern gar nicht mehr ausgepackt. Ist noch genug Geld darin? Für einen Kaffee und eine Portion Pommes würde es reichen. Und die Fahrkarte? Alles klar. Die braunen Slipper noch einpacken, die will sie auf dem Weg zum Schuster bringen. Die Absätze müssen neu gemacht werden. Billiger als neue Schuhe ist eine Reparatur allemal und außerdem sind das ihre Lieblingsschuhe, bequem und chic.
Im Bad mit der Bürste durch die kurzen Haare fahren, Frisör wäre auch mal wieder fällig. Das Geld dafür ist aber erst im nächsten Monat übrig. Wenn sie die Haare wachsen ließe, könnte sie das Geld für den Frisör sparen. Mal sehen. Die Augenwimpern tuschen und die Lippen nachziehen. Sie entscheidet sich für den leicht bräunlichen Lippenstift, der passt gut zu ihren braunen Haaren und dem mandelgrünen Pulli. Nie würde ihr einfallen aus dem Haus zu gehen, ohne sich etwas zurecht zu machen. Und heute macht es ihr besonders Spaß. Trotz des Gangs zum Jobcenter ist sie bester Stimmung. Die vergangenen Tage waren höchst erfreulich verlaufen. Der Termin im Kaufhaus und anschließend mit Ritter essen. Sie erinnert sich gerne an den Abend. Ist ein ausnehmend sympathischer Mann durchaus charmant und sieht auch noch gut aus, geht ihr durch den Kopf während sie das Fenster in der Küche schließt. Gestern war sie gut mit dem Artikel klar gekommen. Zufrieden mit sich selbst hatte sie ihn pünktlich abgeliefert. So, jetzt noch den Schirm eingepackt. Heute regnet es nicht, sieht sogar so aus als wolle die Sonne durchkommen aber man weiß ja nie in diesen Breitengraden.
Als sie in die Straße einbiegt, an der das Jobcenter liegt, sieht sie, dass der Bürgersteig davor leer ist. Ein gutes Zeichen. Nur im Eingangsbereich stehen einige Frauen und Männer herum, die noch hastig an einer Zigarette ziehen. Schon Meter vorher stinkt es eklig nach kaltem Rauch. Sie hatte auch schon erlebt, dass bereits auf dem Bürgersteig die Leute Schlange standen und das bei eisigen Temperaturen. Damals hatte sie eine gute Stunde Muße gehabt sich die Umgebung anzusehen. Lag eigentlich böse Absicht darin, Jobcenter, die vor einigen Jahren noch Arbeitsamt hießen, so oft in die hässlichsten Ecken eines Bezirks zu setzen? Die Trostlosigkeit in solchen Straßen spiegelt vermutlich die Stimmung wider, mit der die Arbeitslosen stundenlang anstehen, wenn sie die Leistungen, für die die meisten jahrelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, beantragen müssen.
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