So steht dieses Buch ernst und stark, klar und gewichtig vor der Zeit: mir fehlt persönlich nur noch eines zur vollen Rundung des Kunstwerkes, und das wäre die gleich große, gleich gerechte Analyse der ergreifendsten Tragödie von Heinrich von Kleist: eine eingefügte Analyse seines Lebens. War es akademische Rücksicht, die ein Werk auf das rein Literarische beschränken wollte, die Gundolf abgehalten hat, die Formen von Kleistens Kunst aus Formen seines Lebens, aus Szenen und Perspektiven seines Schicksals vergleichend zu entwickeln – gewiß ist, daß er mit einer gewissen Absichtlichkeit alle biographischen Elemente aus den Analysen der Werke, aus der Darstellung des Menschen weggelassen hat. So ist, wer Kleist in seiner Ganzheit erkennen will, genötigt, noch eine Biographie des Dichters dieser großartigen Studie zur Seite zu legen und das geistige Bild durch ein historisches zu ergänzen, während es mir, und ich glaube: vielen, glückhaft gewesen wäre, diese Darstellung und Durchdringung gleichzeitig mit der kritischen Überhöhung gerade von Gundolf geformt zu sehen. Er scheint mir der Einzige, der Gestalten erlauchter, abseitiger und dichterischer ethischer Erhobenheit, wie die Kleistens – und hoffentlich bald auch die Hölderlins – im Urzusammenhang von Gestalt und Gestaltung darstellen könnte, und es ist mein einziges Bedauern bei diesem bedeutenden Buch, daß es sich einzig auf die Gestaltung, auf das Geistige beschränkt und nicht auch die Gestalt, das dämonische Schicksal, in den wunderbar geschlossenen Kreis der Erklärung und Beschwörung einbezogen hat.
Die ungeheuerliche und jetzt erst, da im Insel-Verlag zum erstenmal eine prächtige Neuausgabe erscheint, für jeden Einsichtigen offenbare Schande, daß durch fünfzig Jahre eines der schönsten Bücher der österreichischen, der deutschen Literatur verschollen war, wird nicht viel geringer dadurch, daß sie eine ganze Reihe von Instanzen gemeinsam trifft. Die Schuld an diesem Versäumnis, an diesem unerklärlichen und unbegreiflichen Versäumnis, daß ein solches Buch uns ein halbes Jahrhundert verlorengehen konnte, fällt zu gleichen Teilen den deutschen Verlegern und deutschen Literaturgeschichtsprofessoren, den öffentlichen österreichischen Kreisen und – so seltsam es auch klingen mag – der tschechischen Nation zu. Den deutschen Verlegern in erster Linie: denn was haben sie in diesen fünfzig Jahren nicht Unnötiges, Gleichgültiges herausgegeben und angepriesen, jeder unwertigste Franzose, jeder belangloseste Skandinavier wurde übersetzt, jede alte Scharteke neu gedruckt und in bibliophilen Ausgaben verschleißt, indes hier, brach und offen, ohne Honorarverpflichtung und ohne andere Mühe als eines einfachen Abdruckes ein unbeschreiblich reines und unvergängliches Werk ihnen gegeben war. Nicht minder schuldig sind in diesem Zusammenhange die Literaturprofessoren, die dicke Bände zusammenklitterten und alljährlich Zeitschriften mit gelehrten Untersuchungen füllten, nicht aber imstande waren, zu erkennen, daß der historische Roman in deutscher Sprache kaum je eigenartiger versucht und gestaltet worden war als in diesem Spätling des längst schon zum zarten Novellisten abgestempelten Dichters. Die Schuld trifft mit das alte Österreich, das niemals Adalbert Stifters wahren Wert erkannte, und sie trifft, so sonderbar es scheint, die tschechische Nation, denn hier in diesem tausendseitigen Roman ist – wie in keinem ihrer eigenen Werke (soviel sie mir bekannt sind) – die historische Geschichte Böhmens, die patriarchalische Sitte, die Reinheit und Stärke ihrer Urväter, geschildert, und ich glaube, nicht zu übertreiben, wenn ich sage, daß der ›Witiko‹ im gewissen Sinn für das tschechische Volk eine Art leiser Iliade, ein sanftes ungewaltsames, manchmal idyllisches und immer doch ergreifendes Nibelungenlied ist.
Auch uns scheint Mitschuld an diesem Versäumnis zu treffen, denn wir mußten wissen, wie unzulänglich das Urteil der Literarhistoriker ist; es wäre längst unsere Pflicht gewesen, sich nicht auf die flüchtig ablehnenden Sätze der professionellen Kunstrichter, die diesen Roman als langweilig, als mißlungen und unlesenswert abtaten, zu verlassen. Aber zu unserer Rechtfertigung muß daran erinnert werden, wie sehr verschollen dieses sonderbare Buch durch alle die Zeit gewesen ist, ja daß es sogar längst zu den Unmöglichkeiten geworden war, sich zu einem nennenswerten Preis ein Exemplar der ersten – und einzigen – vollständigen Ausgabe anzuschaffen. In den Friedenszeiten fragte ich bei einem Buchhändler danach. Er nannte mir (zu Friedenszeiten!) 200 K (vollwertige Friedenskronen) als Preis, eine Summe, für die man noch damals eine kleine Bibliothek erstehen konnte. So ließ ich ab. Als aber vor einem Jahre, ebenfalls in einer schönen Ausgabe der Insel, der andere Roman Stifters ›Der Nachsommer‹ erschienen war und mir in wirklicher Erschütterung das ungeheure Unrecht, das auch an diesem Werke begangen worden war, aufging, versuchte ich meine Anstrengung auf das neue. Aber nun war es überhaupt nicht mehr zu haben, – verschollen, verloren, eingesargt war es für alle, die es suchten.
Nun aber ist es auferstanden, das einst dreibändige Werk, das die Insel in einen einzigen Band von etwa tausend Seiten zusammenschließt, und ich habe es gelesen, mit ebensogroßer Freude, als ich ihm innerlich mit Angst genaht war. Denn immer und immer konnte ich es mir nicht vorstellen, daß fünfzig Jahre, in denen klare, einsichtige Menschen lebten, ein wirklich wertvolles Buch so hätten hinfallen lassen können. Ich begann mit mehr Pietät als Erwartung, einzig sicher, durch den wasserhellen, durchscheinenden, diesen klarschmeckenden und kühl rollenden Prosastil Stifters schon allein für eine vermutete Langeweile der eigentlichen Darstellung entschädigt zu sein. Und wie sonderbar: nach den ersten fünfzig und hundert Seiten spürte ich eine Welt. Ganz neu, ganz rein erstand eine Welt der Vergangenheit, blank wie in einem Traum bewahrt, ein Land, eine Nation, eine Zeit, Böhmen, das ganze mittlere, nördliche, südliche Böhmen mit seinen Bergen, Flüssen und Städten und Sitten und Menschen. Das war nicht mehr der kleine, liebliche Winkel von Oberplan, von dem wir jede Tanne zu kennen glaubten und jede Mulde, jeden Baumschlag im Grünen und jeden aufragenden Berg – hier tat sich ein ganzes Reich auf, frühslawisches Mittelalter mit alten Recken und wunderlich bäuerlichen Menschen, eine Welt der Kämpfe und der Gestalten, sagenhaft schön, bildlich nah und magisch fern. Hier war Geschichte mit einemmal gebildet und lebend geworden, und ich kenne keinen historischen Roman, der auf eine so lautere, reine Art Geschichte in Dichtung zu verwandeln wußte als diesen. Bei Stifter gibt es ja keine Einleitung, keine schwulstigen Abhandlungen, er rahmt nicht seine Menschen um irgendwelche mittelalterlichen Attrappen hin. Er läßt sie nur miteinander sprechen, und da erzählt etwa in einer Ratsversammlung irgendein alter Adeliger, wie das Reich an die Fürsten kam, ein anderer erwidert ihm, und so flicht sich wie an einem Teppich Bild an Bild allmählich die ganze Zeit zu einem ungeheuren Gobelin zusammen, der eine weite Fläche von Jahrhunderten ruhend bewegt überspannt. Ich weiß nicht, ob die tschechische Nation irgendwo in ihrer Nationalliteratur eine ähnliche bildhafte Beschreibung der Belagerung von Prag hat, und eine Darstellung ihrer Schlachten. Ich glaube auch nicht, daß in irgendeinem historischen Roman mit ähnlicher Leichtigkeit die Bindung zwischen dem österreichischen, dem deutschen und dem böhmischen Land, also dem Herzen Europas, so zu innerem Ausdruck kam. Hier ist eine Welt, eine Zeit mit unendlicher Einheit gestaltet, ganz als Vision und doch wahrscheinlich, dokumentarisch treuer, als alle die künstlichen Nachbildungen es sonst ermöglichen.
Daß dieser Roman von Stifter ist, verleugnet er übrigens nirgends in seiner wesentlichen Eigenheit. Auch hier sind die Menschen alle rein und gut, die Landschaft ohne Harm und voll Freundlichkeit – hier wie immer hat der einsame bittere Landesschulrat in Linz, wenn er verdrossen nachmittags aus seinem Büro nach Hause kam und sich an seinen Schreibtisch setzte, sich eine reine Welt, eine ganz einfältige, gütige, nicht die wahrhaftige, in Gut und Böse zerspannte und zerrissene, umgeträumt. Und nirgends wird auch dieser Roman wahrhaft aufregend: bei Stifter gibt es ja keine starke Spannung, keine Entladung und Explosion, kein Feuerwerk der Leidenschaft, weshalb man ja immer geneigt ist, ihn langweilig zu nennen. Aber ich glaube, dies ist nur eine Frage des musikalischen Empfindens, ob man Stifter zu lesen weiß oder nicht. Wer aber die Fähigkeit hat, sich diesem reinen, sanft melodischen, nie aber in seinem Takt auch nur für eine Sekunde stockenden Stil mit der Seele ganz hinzugeben, der gleitet nicht nur durch die schmalen Wasser seiner Novellen, sondern auch den breiten Strom seiner Romane hin, wie in einem Traum: man spürt keine Zeit, man spürt keine Müdigkeit. Es gleitet sich gut, und immer neue Bilder fließen in immer neuen Landschaften vorbei, und immer ist unter einem das sanfte Getragensein von leiser Musik. Über Stifter läßt sich nicht streiten, es ist eine Frage des Gefühls, des Empfindens, eines besonderen künstlerischen Sinns. Wer diesen aber hat, dem wird Stifter nie großartiger erschienen sein als in seinen wahrhaft großen, solange verkannt gebliebenen Romanen, dem ›Nachsommer‹ und dem ›Witiko‹, wo er sich nicht, wie die Törichten so lange meinten, als eine Art österreichischer Theodor Storm oder Paul Heyse erweist, sondern nur mit Goethes lautersten Prosawerken, dem ›Wilhelm Meister‹ und den ›Wahlverwandtschaften‹ in sprachlicher Kunst und reiner Ruhe verglichen werden kann.
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