1 ...8 9 10 12 13 14 ...27 Alle hasteten in ihre Zimmer und fingen an, ihre Habseligkeiten zusammenzuraffen. Loyd klemmte seine wichtigsten Bücher unter den Arm und stopfte diese, seinen Studentenschal, sämtliche Laborutensilien und den Metalldetektor in seine Schultertasche und begab sich daraufhin vor das Zimmer seiner Schwester nebenan. Währenddessen sprach er eine Lichtmail für Ankerbelly, in der er ihm flüchtig die Umstände in Hildenberge erläuterte. Seine Eltern waren noch immer oben in ihrem Schlafzimmer.
»Keli, bist du bereit? Lass das Blattspiel liegen! Das kannst du unmöglich mit nach Lichterloh nehmen.«
»Du verstehst das nicht«, erwiderte Keli knapp, wobei sie fieberhaft versuchte, hunderte Spielkarten, die überall auf dem Zimmerboden verteilt lagen, zu bündeln und in eine kleine Stofftasche zu stopfen. »Dafür habe ich mein ganzes Leben lang gespart.«
Plötzlich gab es einen markerschütternden Knall, und das ganze Haus erbebte bedrohlich.
»Ach du zwickendes Schmelzwasser!«, entfuhr es Loyd mit panischer Stimme.
Das Geräusch von zerberstendem Holz war zu hören, und Wasser fing an, durch Risse an der Decke zu strömen.
»MAM, PAPS, NEIN!«, brüllte Keli und stürmte Richtung Treppe los, die ins obere Geschoss führte. Doch Loyd war schneller. Im Bruchteil einer Sekunde signalisierte sein ausgeprägter Überlebensinstinkt, was zu tun war, und gerade noch rechtzeitig konnte er seine Schwester von hinten packen. Er umklammerte sie um die Hüfte und, obwohl Keli wie verrückt zappelte, hob Loyd sie auf und bugsierte sie grob die Treppe ins Erdgeschoß hinunter. Kelis halb gefüllter Rucksack und Loyds Unitasche waren im mittleren Stock liegen geblieben. Nun sprudelte auch schon eisiges Wasser durch alle möglichen Rinnen und Öffnungen ins Erdgeschoß hinunter. Loyd stieß mit dem Fuß die hölzerne Haustür auf, worauf eine eiskalte, kristallblaue Wasserwelle über sie hinwegbrandete. Nach der ersten Flut war der Wasserstand noch kniehoch. Vor ihnen erstreckte sich der altbekannte unförmige Eistunnel, der nach ein paar Metern nach links weg bog. Loyd warf Keli, die wild um sich schlug, vor sich ins Wasser. Keli sprang sofort wieder auf. Sie wollte zurück ins Haus jagen und rammte Loyd dabei in die Bauchgegend, woraufhin dieser ihr einen zünftigen Haken verpasste. Keli flog rücklings ins eisige Wasser.
»Keli!« , brüllte Loyd mit vor Furcht verzerrter Grimasse. »Du Dummkopf, wir haben keine Zeit! Das Eis bricht über uns zusammen. Mam und Paps können wir jetzt nicht helfen.«
Er watete zu Keli, strich sich rasch mit dem Lichtkristall über die linke Handfläche und machte dann eine einhüllende Bewegung über Kelis Profil. Anschließend tat er dasselbe bei sich. Unterdessen wurden große Stücke Eis und Holz durch die Haustür getrieben.
»Das sollte uns vor der Kälte bewahren, bis wir im Tal sind«, rief Loyd durch das anschwellende Tosen des Wassers, das aus Haustür und Fenstern sprudelte. Keli schien den Tränen nahe, wehrte sich aber nicht weiter und ließ sich Richtung Tunnelwindung fortbewegen. Als sie um die altbekannte Kurve des Tunnels bogen, war das Rathaus nicht mehr allzu weit entfernt. Von weither sahen sie, dass sich etwa zwei Dutzend Personen vor dem traditionell verzierten, hölzernen Gebäude versammelt hatten. Es war nahezu stockdunkel, doch konnten sie erkennen, wie rote Lichter über den Köpfen der Masse umherflogen. Loyd und Keli eilten, so schnell sie konnten, auf die Ansammlung zu.
»Diese Lichter. Was machen die Leute da?«, keuchte Keli angsterfüllt.
»Das sind Gravitationslichter. Wahrscheinlich wird Licht gebündelt, um das Eis vor dem Einbrechen zu bewahren«, rief Loyd, ohne sich umzudrehen.
Als sie der Menge und ihrem buntfarbenen Lichtspiel näherkamen, erkannten sie, dass einige Männer, darunter ihr Großvater, ihre gefalteten Hände mit verkrampften Gesichtern nach oben auf die donnernde Eisdecke gerichtet hatten. Sie schrien den Geschwistern entgegen: »Loyd, Keli! Flüchtet ins Tal! Das Eis bricht über uns zusammen. Wir wissen nicht, wie lange wir es noch aufhalten können.«
Loyd zögerte keinen Augenblick. Er griff Keli bei der Schulter und zusammen rannten sie an der Licht bündelnden Gruppe vorüber, am Rathaus vorbei, weiter in einen dunkelviolett funkelnden Gang, bis sie nach mehreren Windungen vor der Berg-Rutschstation ankamen. Das Tor des Gebäudes stand offen. Der Schalter, auf den man üblicherweise eine Hand hielt, um mit Altem Sonnenlicht zu bezahlen, war verlassen und schien nicht zu funktionieren. Sie gingen auf den Eingang der Rutsche zu, die sich von hier aus zirka zweieinhalb Kilometer in die Tiefe erstreckte. Loyd schob Keli vor den gewaltigen, rundlichen Schacht der Rutschanlage. Dann drehte er sie um, sodass sie sich Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.
»Keli, ich möchte, dass du ins Tal rutschst und bei der Haltestation der Wasserbahn nach Herbstfeld auf mich wartest.«
»Was soll das heißen? Kommst du nicht mit?«, fragte Keli in zittrig weinerlichem Ton.
»Ich werde den Leuten vor dem Rathaus helfen, die Eismassen zu bewältigen. Ich kann sie nicht ihrem Schicksal überlassen.«
»Aber, ich kann auch helfen –«
Doch schon hatte Loyd Keli einen Schubs gegeben. Keli landete rücklings im Schacht der Rutsche, wo sie mit wutentbranntem Gebrüll und immer schneller werdend in der Dunkelheit verschwand. Loyd watete schwer atmend, so schnell er konnte, durch das Wasser zur Tür der Station hinaus und war schon halbwegs durch den Tunnel zurück, als der Boden unter seinen durchtränkten Füßen abermals erzitterte. Das Krachen, das vom Eis ausging, war zu einem trommelfellzerfetzenden Donnern angeschwollen. In der Ferne konnte er Leute schreien hören. Das Beben war so intensiv, dass er gezwungen war, ins Wasser zu knien. Dann, urplötzlich und zu Loyds blankem Entsetzen, kam eine blaue Wand eisklaren Wassers aus der Tunnelbiegung auf ihn zugeschossen. Loyd wurde von den Füßen gerissen und Richtung Station zurückgeschwemmt. Mit ungeheurer Kraft wurde er in die Rutschanlage hineingepresst, prallte mit dem Kopf gegen die Barrieren und wurde schließlich in das dicke Rohr der Eisrutsche hineingesogen, in das er noch vor einigen Augenblicken Keli gestoßen hatte. Alles um ihn herum versank in Finsternis.
Tanzende weißgoldene Lichtpunkte bewegten sich auf und ab. Es waren schöne Lichter, Farben, die Loyd nur von zwei Orten her kannte. Der eine Ort waren Lichtfabriken, die er während seines Studiums auf Exkursionen besucht hatte. Lichtfabriken waren Anlagen, die um Sonnenlöcher herum gebaut wurden und den Präfekturen als Energiequellen dienten. Der ungefilterte Teil des Alten Sonnenlichts flutete tagsüber aus jenen gewaltigen Röhren heraus, prallte an den himmlischen Scheiben ab und warf blaue, grüne, und rote Farbtöne auf die Fläche zurück, die man als »Laternenwald« bezeichnete. Abends erloschen die Strahlen, die aus den Sonnenlöchern drangen, bis sich die Schächte am Morgen darauf wieder mit Altem Sonnenlicht füllten. Die Zonen weiter außen, die außerhalb jenes Lichtkreises lagen, waren wiederum als »Sternenwald« bekannt, über dessen Regionen es grundsätzlich nur sogenannte Sternfäden gab, die sich kreuz und quer über den Himmel verrenkten und für eine düstere Atmosphäre sorgten. Da vor allem Menschenwesen und andere intelligente Wesensarten vom Licht der himmlischen Scheiben profitierten, bewohnten sie dieses vorteilhaft beleuchtete Gebiet schon seit dem Beginn der Neuzeit, obschon es weiter außen ebensolche Sonnenlöcher gab, die nur darauf warteten, von Explorern, wie Loyd einer war, gefunden und bewirtschaftet zu werden.
Loyd nahm einen tiefen Atemzug und begann augenblicklich zu husten. Dem Geruch nach zu urteilen, befand er sich wohl nicht in einer Lichtfabrik. Es roch stark nach Waldboden und Tannennadeln und ein bisschen nach Sumpf. Der einzige Ort, wo es sonst noch weißes Licht gab, lag im Laternenwald selbst. Tief in dessen weiten Waldflächen gab es Wesen, die selbst kleine Mengen weißes Licht erzeugen konnten. Loyds Augen gewöhnten sich allmählich an seine Umgebung. Sein Blick fiel auf kleine helle Lichtgeistchen, die weit oben im Astwerk tanzten und die Umgebung feierlich beleuchteten. Er musste tief im Laternenwald sein, denn in der Nähe von Menschenwesen waren diese Geschöpfe normalerweise nicht anzutreffen. Die Lichtgeistchen gehörten zur Familie der Lichtinsekten und Loyd wusste, dass sie den Menschenwesen oft als Lichtspender an abgeschiedenen Rastplätzen dienten und die Wegweiser auf langen Expeditionen in die Weiten der unerforschten Wälder verkörperten.
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