Die Laternenwald-Expedition
Die Lanthorn-Chroniken Teil 1
Benjamin C. Stutz
Roman
Ungekürzte Ebook -Fassung
Januar 2022
Texte: © 2021 Copyright by Benjamin Christoph Stutz
»Die Laternenwald-Expedition« ist Teil 1 der Trilogie: »Die Lanthorn-Chroniken«
Teil 2: »Die Sternenwald-Expedition« (vsl. 2023)
Teil 3: »Die Götterwald-Expedition« (vsl. 2025)
Erste Auflage
Deutsche Originalausgabe
Umschlaggestaltung: © 2021 Copyright by Stephanie Stutz
https://www.artstation.com/stephaniestutz
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Neu auch als Hörbuch erhältlich
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Neues »Altes Sonnenlicht«
Das wundersame Unlicht
Die drei Botschafter von Lichterloh
Tiefschwarzer Abgrund
Gilbert, der Serau
Das Tal des Ewigen Regens
In der dunkelsten Schwärze
Genius Loci – Die Magie eines Ortes
Lux
Unerwartete Festlichkeiten
Attentat
Beeren, Pilze, Pappelpflaumen
Der Wahrheit auf der Spur
Querfeldein ist auch ein Weg
Der Weg des Lebenskollektivs
Die Unendlichkeit naht
Epilog – Ankunft
Es herrschte völlige Finsternis. Das rhythmische Geräusch schwerer Tropfen, die auf hartem Grund aufschlugen, hallte durch die Dunkelheit. Jasmin wusste nicht, wo sie war, doch die rätselhaften Laute kamen aus unmittelbarer Nähe und erinnerten an eine Kalksteinhöhle, in der die Tränen vergangener Epochen auf Stalagmiten zerbarsten und als Echo verebbten. Nur in der weiten Ferne entdeckte sie ein kaum wahrnehmbares saphirblaues Brillieren im klaffenden Schwarz. An diesem Ort gab es weder Wind, noch Hitze oder Kälte. Jasmin verspürte keine Angst. Sie vermutete, dass dies ein verrückter Traum sein musste, oder – war sie etwa tot? Instinktiv berührte sie ihr Gesicht. Es fühlte sich glatt und makellos an. Ihre Fingerspitzen wanderten weiter und ertasteten den Ansatz ihres langen blonden Haares, das sich ihr vertraut um die Schultern schmiegte.
Sie sah sich um, doch schien es hier tatsächlich nur diese eine, ferne Lichtquelle zu geben. Dann, ganz allmählich, schien sich der Takt, der von den Tropfen vorgegeben wurde, von ihr wegzubewegen, in die Richtung, wo der blaue Schein ins makellose Schwarz gezeichnet war. Jasmin konnte nicht sagen, wie weit das mysteriöse Farbenspiel entfernt lag, aber sie fühlte ein tiefes Verlangen, sich diesem zu nähern.
Intuitiv entschied sie sich, den Lauten zu folgen, um deren Geheimnis auf den Grund zu gehen. Als sie ihre Beine in Bewegung setzte, bemerkte sie sofort, dass sie auf etwas Weichem ging. Die Masse unter ihren Füßen fühlte sich samtig an und erweckte beinahe den Eindruck, als ob sie auf Wasser wandeln würde. Mit bedachten Schritten folgte sie den vorauseilenden Tropfen, die unterdessen kaum noch zu hören waren.
Obwohl das blaue Licht in der Ferne nur schwächlich schimmerte, fühlte es sich dennoch stärkend an. Je näher Jasmin ihm kam, desto mehr gewann der Blauton an Kraft.
Für eine ganze Weile streifte sie durch den scheinbar leeren Raum, dann endlich kam sie den Tropflauten wieder näher. Das undeutliche Leuchten nahm nun zusehends Gestalt an: Es war – ein Fluss? Als Jasmin sich dem durchscheinenden Gebilde noch weiter
näherte, erstarb der wegweisende Takt mit einem lauten »Blob«.
Der letzte Tropfen hatte kreisförmige Wellen auf der zuvor stillen Oberfläche des Flusses aufgescheucht, die dessen Strom in Bewegung setzten. Die Wellen breiteten sich aus und gewannen rasch an Höhe. Jasmin schaute dem Spektakel verwundert zu. Einen solchen Traum hatte sie wahrlich noch nie gehabt.
Plötzlich schreckte sie zurück. Unter der merkwürdigen, nebligen Wasseroberfläche kamen die Umrisse durchsichtiger Gestalten zum Vorschein, die der Bewegung der Wellen folgten und in Rückenlage mit dem Wasserlauf dahintrieben. Jasmin stockte der Atem. Sie fragte sich, ob das Geister waren. Der Traum ließ nicht zu, dass Jasmin Angst empfand, auch weil keine Gefahr von den Erscheinungen auszugehen schien – und dennoch war ihr bewusst, dass dies ein sehr, sehr seltsamer Traum war.
Als die ersten der Gestalten an ihr vorbeizogen, erkannte Jasmin, dass deren Augenlider geschlossen waren und deren Hände auf den Brustkörben gefaltet lagen; fast so, als würden sie beten. Der Fluss nahm an Breite zu, und immer mehr dieser sonderbaren Erscheinungen zogen, aus dem Nichts auftauchend, friedlich und still in die unendliche Weite davon. Jasmin überlegte, was dieses Schauspiel bedeuten könnte und weshalb sie trotz der Skurrilität keinen Unmut empfand.
Gedankenverloren wich sie ein paar Schritte zurück, um der sich füllenden Geisterbahn Platz zu machen. Nach einiger Zeit war das Flussbett so breit geworden und dicht bevölkert, dass Jasmin das schwarze Ufer auf der gegenüberliegenden Seite nicht mehr zu erkennen vermochte.
Noch immer blickte sie unentwegt auf die nun zu Hunderttausenden an ihr vorbeitreibenden, höchstwahrscheinlich toten Menschen und Tiere. Jäh verspürte sie den Drang, die trübblaue Oberfläche des Flusses mit den Fingern zu berühren. Nach kurzem Zögern näherte sie ihren Zeigefinger dem treibenden Strom. Sie tippte die leuchtende Masse nur ganz kurz mit der Fingerspitze an.
Zuerst schien es, als würde nichts geschehen, dann hob sie den Blick und entdeckte zu ihrer Überraschung ihre Mutter. Sie hatte die Augen weit geöffnet und lächelte Jasmin zu. Mit den Lippen formte sie Worte, aber die Laute schienen nicht durch die makellose Wasseroberfläche dringen zu können. Wie gebannt sah Jasmin ihr hinterher. Dann glitt ihr Vater vorbei. Er lächelte ebenfalls herzlich und winkte ihr freudig zu. Jasmin konnte sich nicht erklären, was das zu bedeuten hatte. Was war das nur für ein bizarrer Traum – und warum konnte sie diesem Drama beiwohnen, ohne dabei vor Trauer zusammenzubrechen?
Als letztes zog ihr jüngerer Bruder vorüber, der begeistert mit den Händen fuchtelte. Jasmin war inzwischen dermaßen konsterniert, dass sie begann, am Flussufer entlangzulaufen, um auf Höhe ihrer Familienmitglieder zu bleiben. Wenn ihre Familie schon dahinschied, dann würde sie mit ihnen gehen. Sie erhöhte ihr Tempo, doch vergebens; sie rannte schneller und schneller, flog förmlich dahin, bis der Verlauf des Stroms jäh steil anstieg, als ob die Geistererscheinungen allesamt dem letzten Gericht im Himmel entgegensteuern würden.
Eine laute, undefinierbare Stimme, die von allen Seiten zugleich zu kommen schien, verkündete: »SEI BEREIT.«
Jasmin war schweißgebadet, ganz anders als noch vor einigen Augenblicken im Zwielicht des Geisterflusses. Sie setzte sich auf. Ihr Kopfkissen war nass vor Tränen und ihr blondes Haar völlig zerzaust. Hart schlug sie mit der Faust gegen das Kissen, um die Spannung in ihrem Inneren abzubauen.
»Was für ein bescheuerter Traum«, murmelte sie dumpf in ihre zitternde Hand, mit der sie sich Schweiß und Tränen vom Gesicht wischte. Nach einem tiefen Atemzug machte sie die Lampe auf dem Nachttischchen an, die das kleine Schlafzimmer ausreichend beleuchtete. Sie war erst kürzlich nach Kobe gezogen, um ihren ersten Job anzutreten, und demensprechend war die Einzimmerwohnung auch noch nicht fertig eingerichtet. Eigentlich hatte Jasmin die meisten Umzugskartons noch nicht einmal ausgepackt.
Überzeugt, nicht mehr einschlafen zu können, zog sie sich eine Jacke über, schob ihr Smartphone in die Hosentasche und griff nach dem Schlüsselbund auf dem Tisch. Sie musste an die frische Luft. Jasmin schloss die Eingangstür hinter sich, nahm den Lift ins Erdgeschoss und trat durch die automatisierte Schiebetür hinaus auf die leere Straße.
Es war 2 Uhr morgens. Sie atmete begierig die kühle Nachtluft ein und begann raschen Schrittes, auf dem Bürgersteig entlang zu gehen. Es war zum ersten Mal seit drei Tagen nachts wieder einigermaßen dunkel, da gewaltige Gewitterwolken aufgezogen waren. An der ersten Kreuzung bog sie links ab. Nun waren die waldbewachsenen Gipfel des Rokko-Hügelzugs über den Dächern Kobes zu erkennen. Eine dünne Nebelschicht lag über ihnen, wobei das Licht der Stadt in einem orangen Farbton an den Schleiern hängen blieb.
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