Sie waren schon so weit gefahren, dass sie mühelos hätten ankommen müssen. Er lehnte sich zurück, packte ein Bein auf das Armaturenbrett und atmete durch. Müdigkeit und Gummi schienen sich in seinen Knochen ihren Weg zu bahnen. Vom Becken herab zu den Füßen und nach oben flossen sie über die Hüften hinauf bis auch seine Arme angefüllt waren, er konnte es spüren, von seinem Kern ausmusste er tatenlos mit ansehen wie er aufgefüllt wurde. Sein Körper ein Labyrinth aus tausenden kleinster Kapillaren, angefüllt mit einem Kontrastmittel aus Müdigkeit und Gummi wie er es bei Detreu gesehen hatte. Aber dann gab er sich einen Ruck und die Vorstellung verschwand. `Weg´, dachte er. `Verschwunden´. Camper die nach einem gemütlichen Tages-ausflug ihr eigenes Zelt nicht mehr finden können. Aber dieser Tag war keineswegs gemütlich verlaufen und schon gar kein Ausflug. Und ein Zelt das mehrere Stockwerke hoch ist? Er kurbelte das Fenster runter, steckte seinen staubverkrusteten Kopf heraus und blickte nach oben. Dann bemerkte er einen Hubschrauber am Himmel. Sie wurden also verfolgt. Und jetzt? Sie konnten sich unmöglich jemandem anvertrauen. Wo zum Teufel waren denn diese Pyramidenheinis hin verschwunden? Paula startete den Motor. Dann fuhr sie unter einen schützenden Baum, knallte das Handschuhfach auf und durchstöberte es, um endlich eine zerknitterte Karte hervor-zu holen. „Ich verstehe das nicht!“ sagte sie. „Es muss irgendwo hier gewesen sein. Sie können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben?“ Harry begann zu lachen. Aber es klang wie das verzweifelte Kichern eines Mannes, dem sie nachts, mitten im Schlaf seinen eigenen Mumienschlafsack entwendet haben und der jetzt feststellenmusste, dass in diesem anderen Modell gar kein Reißverschluss zum Öffnen vorgesehen war. „Das darf doch nicht wahr sein.“ kicherte er weiter. „Paula sage mir, dass das nicht wahr ist. Wir lassen alles zu Klump hauen, karren diesen Jeff weg und jetzt finden wir die Pyramide nicht mehr?“ Er kicherte hemmungslos weiter, wollte gerade noch einmal beginnen sich davon zu überzeugen, dass es wirklich keinen Reißverschluss gab, gerade noch einmal beginnen das Gummi langsam seine Armvenen hochwandern zu lassen, als mit einem Ruck, der ihn fast aus dem Wagen geschleudert hätte, seine Seitentür aufgerissen wurde. Beide saßen da wie paralysiert. Eine vor Schreck erstarrte Terrakottagruppe, bereit alles über sich ergehen zu lassen. Aus dem Brennofen geschobene Lehmfiguren die man bald mit der zweiten Schicht heißen Tons übergießen würde. Zu keiner merklichen Regung fähig. Harry und Paula saßen da und glotzten. Sie folgten fast blind dem Zeigefinger eines dünnen Oberarms, der sie zu sich winkte, sie aufforderte den Wagen zu verlassen. Sie räkelten sich über die Sitzbank, mehr schlecht als Recht und als sie sich endlich den Boden berührten, konnten sie spüren, dass ihr Weg zu Ende war. Sie zumindest würden seinen weiteren Fortgang nicht mehr bestimmen können. Es war vorbei, aus. Der Mann, dem der dürre Finger gehörte, trug eine einfache Sonnenbrille, aber sein schmaler, bewegungsloser Mund formte sein Gesicht zu einer kalten Grimasse. Seine Hautfarbe so weiß, dass man sich unschwer denken konnte, wohin der Rest des Blutes aus seinem Gesicht verschwunden sein mochte; geflossen zur Gänze in den Körper in dem es wohl nötiger gebraucht wurde. Wozu auch Gesichtsmuskeln innervieren, dachte Harry, der braucht sie bestimmt nicht mehr. Mit abgehackten, kurzen Bewegungen orderte er seinen schattenhaften Begleitern einige Befehle zu. Bewegungen, zu abgehackten Reflexzuckungen reduziert, ähnlich einer pickenden Taube, aber noch abrupter, in noch größeren Abständen, als hätte jemand einzelne Bilder herausgeschnitten und auch diese noch in einem imaginären Kasten abgelegt, als Reserve, so dass er sie, wenn nötig, jederzeit abrufen konnte, um sie dann in schnellst Handeln zusätzlich mit einzufügen. Noch immer starrten Harry und Paula. Noch immer folgten sie dem Mann, seinen bedächtigen, leichten Schritten, beobachteten wie vier der Schemenmenschen Jeff Rebound auf einer Trage in ein geheimnisvolles, kutschenähnliches Gefährt hinüber wuchteten in dem schließlich sein bewegungsloser Körper verschwand und ließen sich dann fahren, durch eine plötzlich auf-tauchende glitzernde Nebelwand, ähnlich der, von der sie geradekamen und noch vor einer Stunde glaubten, sich befreit zu haben. Die unheimliche Stille die ihnen nach der kurzen Fahrt beim Aussteigen entgegenströmte, erschwerte zusätzlich das Begreifen wo sie sich eigentlich befanden. Nur Umrisse blieben erkennbar. Ein feuchter Geruch trieb ihnen in die Nase, schon bald war ihnen als verflöge die in den letzten Stunden so schmerzlich verspürte Müdigkeit. Ein angenehm warmer Luftzug umgab sie, als wollte er ihre Arme und matten Gesichter umschmeicheln. Sie konnten spüren, wie gut er ihnen tat, wie sich die von dem langen Tag, so hart gestraffte Haut erholte und zu alter Frische zurückkehrte. Aber auch als sie nach oben blickten war in dem diesigen Schleier, den überall kleinste aufblitzende Kristalle zu durchfunkeln schienen, nichts wirklich auszumachen. Es herrschte gerade genug graues Licht, um sich ungehindert bewegen zu können. Noch immer erschienen ihnen die unscheinbar um sie herum wuselnden Begleiter, verhüllt in matten Gewändern, sich untereinander in bedächtigen Gesten verständigend, als ein Ausdruck duldender Abweisung. Vor Harry und Paula gingen zwei von ihnen, ebenso zu jeder der andern Seite ihres kleinen Zuges, so dass sie zusammen zehn waren. Ihr dürrer Begleiter, der sie aus dem Wagen gelotst hatte war nun nicht mehr zu sehen. Verschwunden. Obwohl sich die Gestalten stets in gebührendem Abstand von einer Armlänge zu ihnen verhielten, bemerkten Harry und Paula auf ihrem Weg, dass diese keinen Zweifel daran ließen im Falle des kleinsten Anzeichens eines Zögerns oder einer Verlangsamung des Schritt-tempos zu anderen Mitteln zu greifen. Zweimal war Harry ins Straucheln geraten und zweimal hatte sich der Begleitzug abrupt dem Stoppen unterworfen. Niemand der Acht hatte sich zu ihnen umgedreht, aber es schien ihm, als würde der Kreis ganz unmerklich enger gezogen, als würde ihnen die Luft dünner und das Bewegen ein immer schwereres. Zweimal hatte Harry aber seinen Schritt wieder aufnehmen können, so dass sie schließlich den vorherigen Abstand herstellten und der Zug fortführte. Sie gelangten an eine hoch im Bogen gespannte Verästelung, einem Halbkreis, durch den gut und gern vier Mann und auch ein größerer Wagen hindurch gepasst hätten. Aber plötzlich stockte der Zug. Die vordersten beiden Begleiter wichen jeweils zu ihrer Seite ab und Harry und Paula bemerkten, dass sie alle plötzlich stehen geblieben waren. von vier Mann zu jeder Seite ließen sie stehen in einem Spalier. Und noch ehe beide sich ansehen und fragen konnten was denn nun als nächstes geschehen würde, war es ihnen als schöbe sie eine unsichtbare, weiche Hand nach vorne, um hindurch-zugehen, durch dieses Halbtor. Kurz lehnten sich beide zurück, aber es gab kein Halten, sie mussten weiter nach vorne gehen, ob sie wollten oder nicht und als sie nur noch ganz kurz vor dem Tor standen sahen sie es. Eine sich bewegende Wand und als sie noch näher herantraten, sahen sie, dass diese Wand nicht nur millionenfach zu flimmern begann, sondern millionen-fach aus lauter kleinen flirrenden Lebewesen bestand, aber es gab kein Summen, kein Rauschen und immer stärker wurde jetzt der Druck der unsichtbaren Hand. Schließlich, nur noch wenige Schritte schienen sie unausweichlich darauf zu zusteuern und Paula ergriff Harrys Hand. „ Nein, ich will nicht!“ Auch Harry wurde jetzt unruhig, aber er wusste nicht was er tun sollte. „Bitte Harry, nein. Nicht in diese Insekten hinein, was immer es ist.“ Harry fasste Paulas Hand noch fester, dann riss er sich los und drehte sich um, stemmte sich von dem Torbogen weg. „Mach es wie ich, Paula!“ schrie er und stemmte sich weiter dagegen, auch sie begriff nun die Chance. Beide schafften es sich gegen den Druck etwas durchzusetzen und ihre geheimnisvolle Fahrt zu stoppen, aber schon bald spürten sie erneut wie es sie in Richtung Tor drückte, schließlich rief Harry: „Wir haben keine andere Wahl. Was immer hier passiert. Paula. Wir müssen es wohl über uns ergehen lassen.“ Sie fassten sich wieder bei den Händen und blieben kerzengerade stehen. Wieder wurden sie voran geschoben. Die Wand wurde farbiger, sie konnten kleine Fühler erkennen, aber auch wattige Flügelchen, die sich unaufhörlich drehten und schon passierte es. Paula entfuhr ein Schrei und Harry wollte noch etwas rufen. Aber schon waren sie durch den Halbbogen hindurch. Zuerst geschah nichts. Buntes Licht tauchte in sie ein, auf den Ohren ein dumpfer Druck. Dann verspürten sie ein Kribbeln und Streicheln am ganzen Körper, aber ohne es als solches wahrzunehmen, eher, als hörten sie das Kratzen und Schaben in weiter Ferne, obwohl es doch so nahe war, als umgäbe sie noch eine Schale die nichts zu den empfindsamen Rezeptoren der Körperoberhaut hindurchließ. Es kribbelte und zuppte an ihnen. Sie konnten aneinander erkennen wie die einzelnen Härchen an ihren Armen, wie jedes Partikelchen in ihren Haaren durchweht und gehoben und gesenkt wurde. Aber keinen Schmerz und auch kein wohliges Empfinden konnten sie an sich feststellen. Nur ein Abfächern und Putzen. Und noch ehe sie sich versahen, kamen sie auch schon wieder aus dem Halbbogen heraus. Merkwürdigerweise empfing sie dort das gleiche Spalier der vier Gestalten zu jeder Seite, aber Paula stand nun zur rechten von Harry und nun war es eher ein Ziehen, als ein Schieben das sie weiter vorwärts drängte. Dann endlich war das Licht und das Befühlern um sie herum vorbei und sie standen erneut in dem Nebelschleier. Beide betasteten sich und stellten fest, dass sie sich nicht nur gesäubert, sondern auch unversehrt vorfanden. Auch war der Hunger von ihnen gewichen. Und immer noch gab es keinen Zeitpunkt der Ruhe. Denn in dem Spalier stand ihnen nun wieder der dürre Mann mit der Sonnenbrille gegenüber. Aber diesmal zeigte er keinen kleinen Finger, sondern hob den ganzen Arm, um sie in ihrem Gefolge einen weiteren Weg über das Gelände schreiten zu lassen. In eben demselben Tempo, mit eben denselben acht verhangenen Gestalten. Das Entkleiden, Säubern, etwas zu Essen, waren aber erste Gesten des Willkommens. Jedenfalls wollten sie es sich so wahrhaben und als sie nun abermals aufbrachen, derselbe Trupp sie umringte, und sie diesmal auch den dürren mit der Sonnenbrille ausmachen konnten, erschien das Ganze nicht mehr so unheimlich. Ja die Angst schien fast verflogen. Es mochte ein seltsames Ritual gewesen sein, ein Füttern und Nähren, eine zu überschreitende Sperre des Kontrollierens, aber noch immer schienen sie von den sie umgebenden die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, noch immer galt ihnen beiden derer ganzes Interesse. Sie kamen an einigen kleineren Hütten vorbei und steuerten sehr zielstrebig auf ein offenbar eigens hergerichtetes Quartier zu. Nicht ein Wort hatten Harry und Paula, nie allein gelassen, miteinander wechseln können, mit Ausnahme ihrer eher armseligen Hilfeschreie. Aber auf diesem zweiten Weg nun konnte Paula für einen kurzen, unbemerkten Moment, wie sie glaubte, Harry am Arm schubsen. Er wandte sich zu ihr um und so konnte sie seine Aufmerksamkeit auf ein noch im Schleier der diesigen Kristalle verhülltes Gebilde lenken, das den ganzen von überliegenden Wolken versunkenen Ort überragte, das keine andere Form hatte als die eines großen nach oben immer spitzer zuführenden Kegels, unverkennbar die Form eines Bauwerks das seit über dreitausend Jahren nur einen einzigen Namen trägt. Eine `Pyramide´. Grund ihres langen Fußmarsches in ein gesondertes Gebiet auf dem weiten Gelände der Pyramide war schließlich ein alter Bekannter. Noch ein gutes Anzeichen. Sie machten halt vor dem erst frisch aufgebauten Lager und wurden schließlich zu zweit eingelassen. In dem nicht sehr großen, schlichten Raum befanden sie sich in Gewahr nur noch zweier anderer Personen und sahen sich dann in aller Ruhe an, was von Jeff Rebound noch übrig geblieben war. Er erhielt eigens dieses Quartier nur für sich. Wie sie hierher gekommen waren, was dieses Versteckspiel sollte, dass man sie überhaupt gefunden hatte, alles war jetzt erst einmal zweitrangig, es gab noch dringendere Fragen. „ Detreu!“ hörte Harry sich sagen. Ein unbestimmtes Drängen in ihm ließ ihn sofort zum Punkt kommen: „Wo ist Detreu? Ich brauche ihn. Meine Zeit, ich habe nur noch wenige Tage zu leben, ohne die Lichtschranken werde ich sterben.“ Rebound drehte ihm schwer-fällig seinen Kopf zu, aha, das ging also noch. Aber mehr noch als das. plötzlich begann er sogar zu sprechen, was Harry aus diesem seltsam verformten Puppengesicht nun überhaupt nicht erwartet hatte, so dass er erschrocken zusammenzuckte. „Trösten Sie sich“, schnaubte Rebound. „Nur noch wenige Tage zu leben!“ äffte er Harry nach. „Da haben Sie mit einigen tausend anderen etwas gemeinsam, Harry – Sterben - Ich habe Sie ja gewarnt!“ Harry konnte jetzt keinen Zynismus gebrauchen. „Wo ist Detreu?“ „Der Wunderdoktor?“ eine lange Pause setzte ein, dann wieder diese Stimme: „Der ist über alle Berge. Tja, Pech gehabt, mein guter Junge. Pech gehabt.“ Das Schmunzeln des immer noch fast bewegungslosen Rebound traf ihn wie ein Schlag. In dem verbeulten, aufgeplusterten Gesicht dieses dicken Mannes konnte er es nicht sehen, aber erahnen. Rebound hatte diese Art, sein Schmunzeln schon vorher mit Worten anzukündigen. Ob er wohl Schmerzen hatte? Und Detreu? Getürmt? Harry setzte sich resigniert in einen Stuhl und schämte sich nicht, als die Tränen langsam seine von Staub und herabperlendem Schweiß verklebten Wangen herunter liefen. Langsam, flüssig, warm, Schmierspur für Schmierspur, sein Gesicht erforschend wie eine kriechende Schnecke, langsam, ganz langsam und dann immer schneller. Vor der Tür wurde Harry bereits erwartet. Zwei weißgekleidete Männer gingen an ihm vorbei in den Raum den er eben verlassen hatte, um sich weiter um den fast bewegungslosen Gast zu kümmern. Harry wurde in einem kurzen Schreiben, gehalten in einem Umschlag, instruiert seinem Gesprächspartner eine kurze Ruhepause zu gönnen, um dann mit dem Gespräch fortzufahren. Er würde weitere zwanzig Minuten erhalten, um sich dann vorzustellen. Was das hieß konnte nur eines bedeuten: Einen Besuch bei Geisa, der Leiterin der Pyramide. Harry stand etwas verloren da, vor dem kleinen Domizil des Jeff Rebound. Seine beiden ihm zugeteilten Beobachter, in grau gekleidet, sagten noch immer kein Wort. Er sah sich um, bemerkte sonst aber er niemanden. Siemussten sehr weit am Rande des Geländes sein. Seine Füße standen auf hartem Sandboden. Noch immer war der Himmel grau erfüllt von den glitzernden Lichtpunkten. Das merkwürdige Begrüßungsritual, die diesige Atmosphäre hatte zweifellos etwas mit dem zerstörerischen Ablauf des Tages zu tun. Ein sehr langer Tag. Aber er fühlte sich keineswegs müde und betastete ein ums andere Mal seine seit dem Halbbogen getrocknete Kleidung. Welch Wundermittel sie auch immer dort wieder angewandt haben mochten, im Moment konnte es ihm nur Recht sein.
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