Ja, ja, murmelte Villefort, dies alles scheint mir der Wahrheit gemäß, und wenn Sie schuldig sind, so sind Sie nur einer Unklugheit schuldig, und diese entschuldigt sich noch durch die Befehle Ihres Kapitäns. Geben Sie uns den Brief, den man Ihnen auf Elba eingehändigt hat! Verpfänden Sie mir Ihr Ehrenwort, sich bei der ersten Vorladung zu stellen, und kehren Sie zu Ihren Freunden zurück.
Ich bin also frei! rief Dantes im Übermaß der Freude.
Ja, nur geben Sie mir den Brief!
Er muß vor Ihnen liegen, mein Herr, denn man hat ihn mir mit meinen andern Papieren genommen.
Warten Sie, sagte Villefort zu Dantes, der seine Handschuhe und seinen Hut nahm; warten Sie! An wen war er adressiert?
An Herrn Noirtier, Rue Coq-Héron in Paris.
Wie vom Blitz getroffen sank Villefort auf seinen Stuhl zurück. Aber mit krampfhafter Anstrengung erhob er sich bald wieder, um den Stoß Papiere, die man Dantes abgenommen, zu erreichen, und zog nach kurzem Suchen den unseligen Brief hervor, auf den er einen Blick voll unsäglichen Schreckens warf.
Herr Noirtier, Rue Coq-Héron Nr. 13, murmelte er, immer mehr erbleichend.
Ja, antwortete Dantes erstaunt. Kennen Sie ihn?
Nein, versetzte Villefort lebhaft; ein treuer Diener des Königs kennt keine Verschwörer.
Es handelt sich also um eine Verschwörung? sagte Dantes, der von einer noch größeren Bangigkeit als zuvor erfaßt wurde. Jedenfalls wußte ich, wie ich Ihnen vorhin sagte, durchaus nichts von der Depesche, deren Träger ich war.
Ja, versetzte Villefort mit dumpfem Tone, aber Sie wissen den Namen des Adressaten.
Um ihm selbst den Brief zu überbringen, mußte ich ihn wohl wissen.
Und Sie haben diesen Brief niemand gezeigt? fragte Villefort, während er las und immer mehr erbleichte.
Niemand, mein Herr, auf Ehre!
Niemand weiß, daß Sie der Träger eines von Elba kommenden und an Herrn Noirtier adressierten Briefes waren?
Niemand, mit Ausnahme dessen, der ihn mir zugestellt hat.
Das ist zuviel, das ist noch zuviel! murmelte Villefort, und seine Stirn verdüsterte sich immer mehr, je näher er dem Ende des Briefes kam. Seine bleichen Lippen, seine zitternden Hände, seine glühenden Augen erregten in Dantes die traurigsten Befürchtungen. Nachdem Villefort vollends ausgelesen hatte, ließ er sein Haupt in seine Hände sinken und blieb einen Augenblick unbeweglich.
Oh, mein Gott! was ist Ihnen denn? fragte Dantes schüchtern.
Villefort antwortete nicht; aber nach einer Minute richtete er seinen bleichen, verstörten Kopf wieder auf, las den Brief zum zweitenmale und sagte dann: Und Sie sagen, Sie wissen nichts von dem Inhalte des Briefes?
Ich wiederhole Ihnen bei meiner Ehre, ich weiß nichts davon, antwortete Dantes; aber mein Gott, was haben Sie denn? Sie sind unwohl! Soll ich läuten? Soll ich rufen?
Nein, antwortete Villefort, rasch aufstehend, rühren Sie sich nicht, sprechen Sie kein Wort! Ich brauche nichts, ein vorübergehender Schwindel, nichts mehr. Antworten Sie!
Dantes erwartete das Verhör, das diese Frage ankündigte, aber vergebens. Villefort fiel auf seinen Stuhl zurück, fuhr mit eisiger Hand über seine mit Schweiß übergossene Stirn, las den Brief zum drittenmale und sagte zu sich selbst: Ah, wenn er weiß, was dieser Brief enthält, und wenn er je erfährt, daß Noirtier mein Vater ist, so bin ich verloren, auf immer verloren.
Und von Zeit zu Zeit schaute er Edmond an, als hätte sein Blick die unsichtbare Schranke durchbrechen können, welche im Herzen die Geheimnisse verbirgt, die der Mund bewahrt.
Wir dürfen nicht mehr daran zweifeln! rief er plötzlich.
Aber in des Himmels Namen, sagte der unglückliche junge Mann, wenn Sie an mir zweifeln, wenn Sie einen Verdacht gegen mich haben, so fragen Sie mich, und ich bin bereit zu antworten.
Villefort raffte sich mit einer heftigen Anstrengung auf und sagte mit einem Tone, dem er Sicherheit verleihen wollte: Herr Dantes, die schwersten Anschuldigungen entspringen für Sie aus diesem Verhöre. Es steht also nicht in meiner Gewalt, wie ich anfangs gehofft habe, Sie in Freiheit zu setzen. Ehe ich eine solche Maßregel treffe, muß ich mich mit dem Untersuchungsrichter beraten. Sie haben ja bisher gesehen, wie ich gegen Sie verfahren bin.
Ja, mein Herr! rief Dantes, und ich danke Ihnen, denn Sie sind für mich eher ein Freund als ein Richter gewesen.
Nun wohl, ich werde Sie noch einige Zeit, doch so kurze Zeit als nur immer möglich, gefangen halten. Die Hauptanklage gegen Sie liegt in diesem Briefe, und Sie sehen . . .
Villefort näherte sich dem Kamin, warf ihn ins Feuer und blieb dabei stehen, bis er völlig in Asche verwandelt war.
Und Sie sehen, fuhr er fort, daß ich ihn vernichte. Doch hören Sie mich, nach einer solchen Handlung müssen Sie natürlich Zutrauen zu mir haben, nicht wahr?
Oh, befehlen Sie, ich werde Ihre Befehle befolgen!
Nein, sagte Villefort, sich dem jungen Mann nähernd, nein, ich will Ihnen keinen Befehl, sondern einen guten Rat geben. Ich will Sie bis heute abend hier im Justizpalaste behalten; vielleicht wird ein anderer kommen und Sie befragen. Sagen Sie ihm alles, was Sie mir gesagt haben, aber kein Wort von diesem Briefe!
Ich verspreche es Ihnen.
Villefort sprach in bittendem Tone, und der Angeklagte beruhigte den Richter.
Sie begreifen, sagte er, einen Blick auf die Asche werfend, die noch die Form des Papiers bewahrte, nun, da dieser Brief vernichtet ist, wissen nur Sie und ich allein von seiner Existenz, und er kann Ihnen nie wieder vorgelegt werden. Verleugnen Sie ihn, wenn man davon spricht, verleugnen Sie ihn keck, und Sie sind gerettet!
Seien Sie unbesorgt, ich werde leugnen, sagte Dantes.
Gut, gut, versetzte Villefort und fuhr mit der Hand nach einer Klingelschnur. In dem Augenblicke aber, wo er läuten wollte, hielt er wieder inne und sagte: Es war der einzige Brief, den Sie hatten?
Der einzige.
Schwören Sie?
Dantes streckte die Hand aus und sagte: Ich schwöre.
Villefort läutete. Der Polizeikommissar trat ein. Villefort sagte dem Beamten einige Worte ins Ohr. Der Kommissar antwortete mit einer Bewegung des Kopfes.
Folgen Sie dem Herrn! sagte Villefort zu Dantes.
Dantes verbeugte sich, warf einen Blick der Dankbarkeit auf Villefort und ging ab.
Kaum war die Tür hinter ihm geschlossen, als Villefort die Kräfte schwanden und er wie ohnmächtig auf einen Stuhl fiel.
Nach einem Augenblick aber murmelte er: Oh, mein Gott! Woran hängen Leben und Glück! Wäre der Erste Staatsanwalt in Marseille gewesen, hätte man den Untersuchungsrichter statt meiner gerufen, so war ich verloren, und dieses Papier, dieses verfluchte Papier stürzte mich in den Abgrund. Oh, Vater, wirst du denn immer als Hindernis zwischen mich und das Glück treten? Muß ich denn ewig mit deiner Vergangenheit kämpfen?
Dann schien plötzlich ein unerwarteter Gedanke seinen Geist zu durchzucken, sein Antlitz erleuchtete sich, ein Lächeln umspielte seine noch zusammengepreßten Lippen, und seine Augen gewannen wieder ihre Festigkeit. Ja, so ist es, sagte er; dieser Brief, der mich zu Grunde richten sollte, wird vielleicht mein Glück machen. Auf, Villefort, ans Werk!
Und nachdem er sich versichert hatte, daß der Angeschuldigte sich nicht mehr im Vorzimmer befand, entfernte er sich ebenfalls und ging rasch nach dem Hause seiner Braut.
Das Vorzimmer durchschreitend, machte der Polizeikommissar zwei Gendarmen ein Zeichen. Man öffnete eine Tür, durch die die Wohnung des Staatsanwalts mit dem Justizpalast in Verbindung stand, und folgte einem durch die ganze Länge des Justizgebäudes führenden Gange nach dem Gefängnisse. Endlich kam man an eine Tür mit einem eisernen Gitter, an die der Polizeikommissar dreimal mit einem eisernen Hammer klopfte. Die Tür öffnete sich, und die Gendarmen schoben den Gefangenen, der abermals zögerte, mit Gewalt vorwärts. Dantes überschritt die furchtbare Schwelle, und die Tür schloß sich hinter ihm. Man führte ihn in ein ziemlich reines, aber mit Gittern und Riegeln versehenes Zimmer. Der Anblick seiner neuen Wohnung machte ihm nicht zu sehr bange. Die Worte des teilnehmenden Staatsanwalts klangen in seinem Ohre wie ein süßer Hoffnungston.
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