„Na, bist du fertig mit Spielen und hast genug?“ fragte meine aufmerksame Mutter.
NEIN! Ich war nur zu blöd, den Akku nicht mehr vor der Reise aufzuladen, da ich den gesamten Tag schon gespielt hatte, war die Wahrscheinlichkeit der Akkuaufgabe sehr hoch, doch meine Spielsucht und meine Angst davor, helfen zu müssen, ließen mich das übersehen.
Ich antwortete meiner Mutter nicht, sondern schaute aus dem Fenster.
„Wir können ja auch ein anderes Spiel spielen“, versuchte sie mich aufzumuntern, denn wie jede Mutter hatte sie ihre berühmte Intuition und roch den Braten natürlich.
„Wie wäre es mit -Ich sehe was, was du nicht siehst-?“ wollte Mama von mir wissen.
„Nö!“ entgegnete ich kurz und knapp und bildete mir tatsächlich ein, sie würde nachgeben, aber ich kenne meine Mutter mein ganzes Leben und ich hätte es wissen müssen, dass sie einen langen Atem hatte.
„Vielleicht Nummernschilderraten?“ fragte sie dann.
Wer das Spiel des Jahrhunderts noch nicht kennt: Entweder errät man die Herkunft der Abkürzung auf dem Nummernschild eines Autos oder man addiert den Zahlenwert (Wortwahl meiner Mutter). Wer die meisten Punkte hat, verliert!
Erneut antwortete ich nichts. Das war mir einfach zu dumm. Hier im Auto hocken, zu einem Ort zu fahren, der mir nicht gefällt und nicht Cavegame spielen können- das war fast wie die Hölle. Das Auto bewegte sich wieder. Irgendwie war ich froh, auch wenn ich eigentlich gar nicht nach Neumonster wollte.
„Wir halten noch mal bei einer Raststätte“, kündigte Papa an, „ich muss mal dringend für kleine Autofahrer. Wir können uns noch etwas Warmes holen und dann geht’s weiter.“
Auch ich nutzte die Zeit, um mich zu erleichtern. Mein Vater war schon fertig und erklärte mir, dass er vorgehen würde.
„Was willst du essen?“ fragte er mich.
Da ich es eilig hatte, antwortete ich schnell.
„Pommes.“
„Nur Pommes?“ wollte mein Vater genauer wissen.
„Ja.“
„Ich frag‘ ja nur“, ließ er mich wissen.
Ich sagte nichts, sondern ging meinem Business nach. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mich völlig allein in der Raststättentoilette befand. Ich dachte nach über den Umzug und ich vermisste meine Freunde! Benny allen voran. Er war mein bester Freund. Wir kannten uns seit dem Kindergarten. Wir waren uns vom ersten Tag an sympathisch und seitdem unzertrennlich. Und nun? Tja, nun sind wir doch getrennt worden. Wie eine umgekehrte Wiedervereinigung. Es wurde getrennt, was eigentlich zusammengehört. Gedankenversunken bemerkte ich erst jetzt, dass jemand hinter mir stand. Es lief mir im ersten Moment kalt den Rücken runter, denn ich hatte nicht mitbekommen, wie die Toilettentür aufgegangen war. Andererseits war ich gerade am Tagträumen. Ich schloss meinen Pinkelvorgang ab und bewegte mich Richtung Waschbecken. Ich konnte aus dem Augenwinkel erkennen, dass es ein Junge war. Etwas jünger als ich, vielleicht fünf Jahre alt. Ich wusch meine Hände und ließ sie trocken föhnen.
Als ich mich umdrehte, war der Junge verschwunden. Erneute habe ich nicht vernommen, dass er den Raum verlassen hat. Dennoch war ich die ganze Zeit damit beschäftigt nachzudenken. Vielleicht hatte ich es deshalb nicht mitbekommen.
„Da bist du ja endlich“, begrüßte Mama mich, als ich in die Gaststätte kam, um meine Pommes entgegenzunehmen.
„Was hast du denn gemacht? Wohl ein dickes Geschäft erledigt, was?“ scherzte mein Vater.
Ich lachte etwas mit, obwohl er diesen Scherz tatsächlich schon tausend Mal gebracht hatte. Die Pommes schmeckten sehr lecker, was man gar nicht von Raststätten- Pommes erwarten würde. Meine Mutter hatte sich einen Salat geholt, der ihr offensichtlich nicht schmeckte, denn sie hatte die Hälfte übrig gelassen. Mein Vater holte sich den „Best- Burger mit Pommes Spezial“ und haute richtig rein, als gäbe es keinen Morgen mehr.
Als Belohnung durfte meine Mutter den Rest der Strecke nach Neumünster fahren, da Papa ins Suppenkoma fiel. Irritierend ist hier vielleicht der Begriff „Suppe“- es müsste eher „Pommes- und Burger- Koma“ heißen.
Wir verließen das Lokal und ich stieg wieder in das Auto. Es ließ mich sofort daran erinnern, dass ich immer noch kein Cavegame spielen konnte, So weit weg von einer Ladestation! Meine Mutter stellte das Auto auf sich ein, richtete Spiegel und Sitz und wir fuhren los. Als wir wieder auf die Autobahn wollten, mussten wir stehen, da uns keiner reinfahren ließ bei dem Stopp and Go.
„Schau mal“, sprach meine Mutter, „manche fahren wie die Idioten.“
Sie zeigte auf ein Kreuz aus Holz, welches am Straßenrand, links von mir stand. Darunter waren viele frische Blumensträuße. Auf dem Kreuz stand:
„Gott hat dich zu früh von uns genommen. Wir halten dich ewig in unseren Herzen.“
Ich sah das Foto, welches direkt an das Kreuz gestellt war und es ließ mich erschaudern! Das war doch der Junge von der Toilette?! Ich schaute auf das Geburtsdatum und das Sterbedatum und rechnete. Er wäre knapp sechs Jahre alt gewesen. Kann das sein?
Meine Mutter nutzte die nächste Lücke und wir bewegten uns weiter. Es dauerte etwa eine viertel Stunde, ehe wir uns mit angemessener Geschwindigkeit auf der Autobahn bewegen konnten. Der Junge aber ging mir nicht aus dem Kopf. Immer wieder verglich ich das Foto mit der Begegnung auf dem Klo und er kam mir jedes Mal noch ähnlicher vor. Und jedes Mal wurde mir mulmiger bei dem Gefühl, dass es stimmen könnte. Daher schlich sich bei mir der Gedanke ein, dass es alles nur Zufall sein konnte. Wir sind ja hier nicht bei „Sixth Sense“.
Mitten in der Nacht kamen wir in Neumonster an. Eine hässliche Stadt. Selbst in der Nacht. Aber vielleicht lag es auch einfach daran, dass ich müde war und dass ich einfach nicht hier sein wollte.
Wir fuhren in eine Gegend, die etwas abgeschieden war, in einen Stadtteil namens Brachenfeld. Als wir am Tor vorbeifuhren, konnte ich von weitem das beleuchtete Schlösschen sehen. Ringsherum waren Bäume, die keine Blätter mehr trugen, mitten im Juli! Das gesamte Gelände schien nicht gerade einen Nährboden zu haben. Mit der Dunkelheit wirkte es gruselig, aber ich hatte keine Angst, denn ich war zu müde.
Warum musste es ein Schloss sein? Und wie kommen Normalsterbliche zu solch einem Besitz, fragt ihr euch? Nun ja, meine Eltern waren schon immer alternativ, schon weit vor den Neunzigern. Meine Mutter ist Tierärztin und mein Vater im Vorstand eines Elektrofachhandel- Riesen. Da verdient man so Einiges und als sie im Internet gelesen hatten, dass man das Alte Schloss abreißen wollte, haben sie es sich gekauft und modernisiert.
So einfach ist das!
Ich hatte keinen Bock auf so ein Dekadent- Alternativ- Leben, aber ich hatte keine Wahl. Ich sah wie ein Mann, gekleidet wie ein Butler und eine Frau, die wie ein Dienstmädchen aussah, auf uns warteten.
„Wer sind die denn?“ fragte ich mit leicht genervtem Ton, den ich wollte keine Sklaven, die für mich arbeiteten.
„Das sind Heinrich und Isabell“, verriet Mama, „er ist unser Diener und sie Hauswirtschafterin.“
„Wieso das?“ wollte ich wissen und regte mich schon mehr auf.
„Der Oberbürgermeister, Herr Taunus, hatte darum gebeten, der sie hatten schon für die Familie gedient, welche hier früher einmal gelebt hat“, antwortete meine Mutter.
Erst jetzt sah ich, wie alt die beiden waren- das war mir aus der Ferne gar nicht aufgefallen. Merkwürdig. Ich beschloss, die beiden wie Menschen zu behandeln und sie als erstes zu begrüßen.
„Hallo“, sagte ich und mir fiel ehrlich gesagt auch nicht mehr ein.
„Moin“, entgegnete mir Heinrich.
„Es ist Nacht, nicht Morgen“, korrigierte ich und wollte aber nicht unhöflich sein und senkte meinen Kopf nach unten, da ich mich etwas schämte, denn ich wollte den Mann wie einen Menschen behandeln und dann verbessere ich ihn als zweite Handlung.
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