Eine gefühlte Ewigkeit später verabschiedete sich Herr Schmidtke, nachdem sie noch Erbschaftsangelegenheiten besprochen hatten.
Ein Blick auf seine Armbanduhr scheuchte ihn auf. Schon 18:00 Uhr, er musste sich beeilen, wenn er seine Verabredung an diesem Abend pünktlich einhalten wollte.
Innerlich seufzend blickte er sich in seinem kargen Dienstzimmer in der Turmstraße in Moabit um, die Akten stapelten sich fast bis an die Decke des engen, hohen Zimmers aus dem 19. Jahrhundert und schienen nie weniger zu werden, soviel er auch schuftete.
Die mit schmutz abweisender Ölfarbe lindgrün gestrichenen Wände verströmten den Charme einer Gefängniszelle. Es war schon Paradox, er saß hier, um die Bösewichte der Stadt zu verfolgen und möglichst hinter Schloss und Riegel zu bringen und hatte es - rein optisch betrachtet - nicht besser als die, bei denen er erfolgreich gewesen war.
Vielleicht war dies eine Methode der Justizverwaltung, ihre Angestellten stets an den Ernst des Lebens hinter Gittern zu erinnern.
Immerhin, er war frei. Frei, dieses staubige Verlies zu verlassen und sich mit einer tollen Frau zu treffen.
Leon beschloss, für heute die Arbeit zu beenden und klappte die letzte Akte des Tages zu. Da er es nicht mehr rechtzeitig nach Hause schaffen würde, musste er sich wohl oder übel im Büro umziehen. Er zog den teuren Anzug aus, den er sich extra für den neuen Job angeschafft hatte. Was für eine Gehaltsverschwendung bei diesem Ambiente. Stattdessen wechselte er in eine Jeans und ein frisches Hemd.
Sogar einen Ausflug ins KaDeWe hatte er für den neuen Anzug unternommen. Aber allein die Marke BOSS sagte nichts darüber aus, dass er auch BOSS werden würde. Garantiert würde dieses rosagesichtige Schweinchen Egbert - Friedrich vor ihm die Karriereleiter hinauffallen. Der war in der richtigen Studentenverbindung gewesen, der war jetzt in der richtigen Partei und soff garantiert mit den richtigen Leuten, dafür hatte der einen Riecher wie ein Trüffelschwein.
Das winzige vorsintflutliche Waschbecken mit dem kaputten Spiegel erlaubte nur eine notdürftige Wäsche. Es war so niedrig, dass er sich geradezu herabbeugen musste. Vor gefühlt 100 Jahren waren die Angestellten wohl deutlich kleiner gewesen.
Mist, er hatte schon wieder einen deutlichen dunklen Bartschatten, obwohl er sich erst heute Morgen gründlich rasiert hatte. Der nagelneue scheiß supercut Rasierer, für den soviel Werbung gemacht wurde, hielt auch nicht, was er versprach. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und fühlte sich gleich besser. Mit etwas Wasser bändigte er auch seine kräftigen braunen Haare, die er sich beim Brüten über den Akten gründlich zerrauft hatte.
Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und trocknete sich das Gesicht. Zum Glück war er, der Bürohockerei zum Trotz, schlank und fit geblieben, davon konnte dieser grässliche Egbert nur träumen.
Er freute sich auf die Begegnung mit Ella heute Abend. Sie sahen sich viel zu selten, obwohl sie sich seit Grundschultagen kannten. Als Teenager hatte er heimlich für sie geschwärmt, sich dies aber nie anmerken lassen. Bis zum heutigen Tag waren sie bloß alte Kumpel geblieben, es war nie mehr aus ihrer Freundschaft geworden. Warum, konnte er sich auch nicht genau erklären, er hatte sich einfach nie aus der Deckung getraut.
Es lag wohl auch ein wenig an ihrer Familie, schon als Teenager hatte er ihre Mutter nicht leiden können. Diese anstrengende High Society Dame war furchtbar nervig und hätte ihn nie akzeptiert, mit seinem „normalen” gesellschaftlichen Background.
Insgeheim bedauerte er diesen Zustand, zumal die „Richtige” bisher in seinem Leben noch nicht aufgekreuzt war. Aber wenn er immer nur in diesem lindgrünen Verließ hockte und Akten frass, würde sich an diesem Zustand seines Privatlebens so schnell nichts ändern.
Die getigerte Katze hatte vor einigen Tagen junge Kätzchen bekommen, sechs süße kleine Viecher, die sie im Versteck hinter dem Schuppen versorgte. Immer wenn er aus der Dorfschule nach Hause gerannt kam, schaute er zuerst bei der Mutterkatze und ihren Jungen vorbei.
Er war absolut fasziniert von den Tierchen und konnte sie stundenlang beobachten, aber sein Interesse ging über das normale Interesse seiner Altergenossen hinaus. Sie gaben sich damit zufrieden, die Kätzchen zu streicheln und zu liebkosen, verloren aber dann nach einiger Zeit das Interesse und wandten sich anderen Spielen zu. Sie rannten auf den staubigen, unbefestigten Dorfplatz und spielten in der brütenden Sommerhitze Fußball.
Sein Interesse war weitergehender, naturwissenschaftlicher Art. Er beobachtete das Verhalten der Tiere untereinander, wunderte sich, wie schnell sie wuchsen und an Gewicht zulegten, nach ein paar Tagen die Augen öffneten. Er dachte über das Geheimnis des Lebens nach. Er wunderte sich und stellte sich die Frage, wie funktionierte es, das Leben? Klar das Herz schlug und pumpte Blut durch die Adern. Sie tranken Milch, die sie wachsen ließ, so war es bei Mensch und Tier. Im Verlaufe der Wochen, verspürte er immer stärker den inneren Drang, dieses „Leben“ genauer zu erkunden.
Eines Tages fasste er sich ein Herz. Er hatte seine Aktion seit einigen Tagen geplant und vorbereitet, soweit es ihm möglich war. Er hatte ein Filetiermesser aus der Schublade in der guten Stube entwendet. Es war das „gute" Besteck und wurde nur an hohen Feiertagen verwendet, seine Mutter würde es nicht vermissen. Mangels einer vernünftigen Ausrüstung war er auf die Idee verfallen, sich in der kleinen Werkstatt im Schuppen das Nötigste zusammen zu suchen. Die längsten Nägel, die er finden konnte, ein kleiner Hammer, eine kleine Handsäge, einen altmodischen Handbohrer (für einen elektrischen hatte seine Mutter kein Geld) und eine Kneifzange.
Für sein Vorhaben hatte er einen ruhigen Nachmittag ausgewählt. Seine Kumpels waren wie immer auf dem staubigen Fußballplatz zu finden oder am Flussufer, wo sie im seichten Flusswasser herum planschten. Seine Mutter war außer Haus, putzen beim Herrn Bürgermeister. Nachdem er seinen Ranzen von sich geschmissen hatte und hastig das einfache Mittagessen in sich hinein geschaufelt hatte, schlich er sich in das Versteck zu den Kätzchen.
Er sah auf den Wurf hinunter, ihn beschäftigte die Frage, welche er auswählen sollte. Die mit dem niedlichen Fleck an der Nase, den frechen Kater oder die mit dem fluffigen Fell? Er konnte sich beim besten Willen nicht entscheiden und beschloss, die Auswahl dem Schicksal zu überlassen. Voller Konzentration und mit pochendem Herzen, kniff er die Augenlider fest zu, anschließend bückte er sich und griff mitten hinein in den Wurf. Jetzt hatte er eine fest in der Hand, hob sie hoch und öffnete wieder die Augen. Das Schicksal hatte sich für die niedliche mit dem schwarzen Fleck an der Nase entschieden.
Die Werkbank im Schuppen war ein guter, wenn auch provisorischer Arbeitsplatz. Er hielt das Kätzchen fest mit der Faust umklammert, als ob sie ahnen würde, was auf sie zukam, zappelte sie heftig. Aber er gab nicht nach, das Schicksal hatte es so gewollt. Da das Zappeln nicht aufhörte, eilte er in den Schuppen, setzte sie auf die Werkbank und klemmte das eine Hinterbeinchen im Schraubstock fest. Der Druck der ausgeübt wurde, war gerade so stark, dass sie ihr Pfötchen nicht hinausziehen konnte, es aber auch nicht zerquetscht wurde. Vermutlich tat es ihr doch ziemlich weh, denn sie miaute herzzerreißend.
Mist, das war vielleicht in der Nachbarschaft zu hören! Kurzerhand schnitt er ein Stück Stoff von einem alten Lumpen ab und stopfte es wie einen Knebel in ihr kleines rosa Mäulchen. Drumherum wickelte er noch eine alte Bandage. So, jetzt konnte er endlich loslegen, er nahm das altmodische Rasiermesser zur Hand.
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