Frances Hodgson Burnett - Der kleine Lord

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Der siebenjährige Cedric lebt mit seiner Mutter in New York ein bescheidenes, aber glückliches Leben. Unerwartet erreicht ihn und seine Mutter das Schreiben seines Onkels, des Earl of Dorincourt aus dem fernen England. Dorincourt will seinen einzigen Neffen Cedric zur Erziehung in seinem Schloss aufnehmen. Cedric und seine Mutter ziehen nach England. Der Earl erweist sich im Umgang als durchaus schwierig. Doch Cedric gelingt es nach anfänglichen Problemen, ein gutes Verhältnis zu ihm aufzubauen.
"Der kleine Lord" von Frances Hodgson Burnett gilt in Deutschland als Weihnachtsgeschichte, obwohl das Buch nicht von Weihnachten handelt. Die Botschaft des gut zugänglichen Romans, der zu den Klassikern der englischen Literatur gehört, ist jedoch durchaus weihnachtlich.

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Inhalt

Titelseite Frances Hodgson Burnett Der kleine Lord Aus dem Englischen von Emmy Becher

Erstes Kapitel: Eine große Überraschung

Zweites Kapitel: Cedrics Freunde

Drittes Kapitel: Abschied von der Heimat

Viertes Kapitel: In England

Fünftes Kapitel: Im Schloss

Sechstes Kapitel: Der Graf und sein Erbe

Siebentes Kapitel: In der Kirche

Achtes Kapitel: Reiten lernen

Neuntes Kapitel: Schwere Sorgen

Zehntes Kapitel: Amerika in Ängsten

Elftes Kapitel: Die Nebenbuhler

Zwölftes Kapitel: Der Retter in der Not

Dreizehntes Kapitel: Unliebsame Überraschungen

Impressum

Frances Hodgson Burnett

Der kleine Lord

Aus dem Englischen von Emmy Becher

Erstes Kapitel: Eine große Überraschung

Cedric selbst wusste kein Sterbenswörtchen davon, nie war etwas Derartiges in seiner Gegenwart auch nur erwähnt worden. Dass sein Papa ein Engländer gewesen war, wusste er, weil seine Mama ihm das gesagt hatte, aber dann war dieser Papa gestorben, als er noch ganz klein war, und ihm war von ihm nicht viel mehr in Erinnerung geblieben, als dass er eine hohe Gestalt und blaue Augen und einen langen, schönen Schnurrbart gehabt und dass es herrlich gewesen war, auf seinen Schultern in der Stube herumzureiten. Nach des Vaters Tod hatte Cedric dann die Entdeckung gemacht, dass es am allerbesten sei, mit der Mama gar nicht von ihm zu sprechen. Als der Papa erkrankte, war Cedric fortgebracht worden, und als er wieder nach Hause kam, war alles vorüber gewesen, und seine Mutter, die auch eine schwere Krankheit durchgemacht hatte, fing gerade erst wieder an, in ihrem Lehnstuhl am Fenster zu sitzen; allerdings war sie bleich und mager und all die lustigen Grübchen waren aus ihrem hübschen Gesicht verschwunden; die Augen sahen so groß aus und so traurig, und ihr Kleid war ganz schwarz.

„Herzlieb“, sagte Cedric – so hatte sein Papa sie immer genannt, und der kleine Junge machte es ihm nach – „Herzlieb, geht's Papa besser?“

Er fühlte, wie ihr Arm zitterte, wandte plötzlich sein lockiges Köpfchen und sah ihr ins Gesicht, und als er sie so ansah, war's ihm, als ob er selbst bald zu weinen anfangen müsse.

„Herzlieb,“ fragte er noch einmal, „geht es Papa gut?“

Dann gab ihm sein kleines zärtliches Herz plötzlich ein, beide Arme um den Hals der Mutter zu schlingen und sie wieder und wieder zu küssen und seine weiche, warme Wange fest an die ihrige zu schmiegen, und sie drückte ihr Gesicht an seine Schulter und hielt ihn umschlungen, als ob sie ihn nie mehr von sich lassen wollte, und weinte bitterlich.

„Ja, es geht ihm gut,“ schluchzte sie; „ihm geht es gut, aber wir – wir haben nichts mehr auf der Welt als einander. Keine Menschenseele sonst.“

So klein er war, hatte er doch begriffen, dass sein großer, schöner, junger Papa nicht mehr wiederkommen werde, dass er tot sei, wie er es von anderen Leuten auch schon hatte sagen hören, obwohl er nicht recht wusste, was das für ein seltsames Ding war, das so viel Herzleid in seinem Gefolge hatte, und weil sein Mütterchen immer weinte, wenn er vom Papa sprach, kam er ganz in aller Stille auf den Gedanken, dass es besser sei, nicht von ihm zu sprechen, und allmählich fand er auch, dass es besser sei, sie nicht ganz ruhig dasitzen und zum Fenster hinaus oder ins Feuer starren zu lassen. Bekannte hatten er und seine Mama nicht viele, und man konnte ihr Leben sehr einsam nennen, obgleich Cedric davon keine Ahnung hatte, bis er älter wurde und man ihm dann sagte, weshalb sie keine Besuche erhielten. Er erfuhr dann, dass seine Mama eine Waise war und ganz allein in der Welt gestanden hatte, ehe sie Papas Frau geworden. Sie war sehr hübsch und hatte als Gesellschafterin bei einer reichen alten Frau gelebt, die nicht gütig gegen sie gewesen war. Eines Tages hatte Kapitän Cedric Errol, der Besuch bei der Dame machte, sie die Treppe hinauseilen sehen mit schweren dicken Tränentropfen an den langen Wimpern, und dabei hatte sie so unschuldig und traurig und wunderlieblich ausgesehen, dass der Kapitän es nicht mehr hatte vergessen können. Dann waren mancherlei merkwürdige Dinge geschehen, sie hatten einander kennen gelernt und hatten sich sehr lieb und wurden schließlich Mann und Frau, obwohl diese Heirat ihnen die Missbilligung verschiedener Personen zuzog. Am meisten erzürnt darüber war der Vater des Kapitäns, der in England lebte und ein sehr reicher und vornehmer Herr von leidenschaftlicher Gemütsart und einer heftigen Voreingenommenheit gegen Amerika und die Amerikaner war. Kapitän Cedric war der dritte Sohn und hatte also für sein Teil wenig Aussichten auf die äußerst bedeutenden Güter und Titel seines Hauses.

Die Natur verteilt ihre Güter jedoch nicht nach dem Erstgeburtsrecht, und es kommt vor, dass dritte Söhne Dinge besitzen, die den beiden älteren versagt sind. Cedric Errol hatte ein hübsches Gesicht, eine kräftige, schlanke, elastische Gestalt, ein helles Lachen und eine weiche, fröhliche Stimme; er war tapfer, freimütig und hatte das beste Herz von der Welt, und es war, als ob ihm ein Zauber verliehen sei, der alle Menschen zu ihm zog und an ihn fesselte. Bei seinen älteren Brüdern war dem nicht so; der eine wie der andere war weder hübsch noch begabt, noch gutherzig. Als Knaben in der Schule zu Eton machten sie sich sehr unbeliebt; auf der Universität betrieben sie keinerlei Studien, vergeudeten Zeit und Geld und gewannen wenige Freunde. Was der Vater an ihnen erlebte, waren Enttäuschungen und Demütigungen; der Erbe seines edlen Namens machte demselben keine Ehre und versprach, nichts zu werden, als ein selbstbezogener, verschwenderischer unbedeutender Mensch ohne jegliche ritterliche Tugend. Es war sehr bitter für den alten Herrn, dass der Sohn, welcher die unbedeutende Stellung des Jüngsten einnahm und nur ein sehr mäßiges Vermögen erhalten konnte, alles besaß, was an Talent, Liebenswürdigkeit, Kraft und äußerer Erscheinung in seiner Familie zu entdecken war.

Zuweilen hasste er den frischen jungen Gesellen beinahe, der sich unterfing, all' die guten Dinge zu besitzen, die doch mit Fug und Recht zu dem großen Titel und dem herrlichen Besitztum gehört hätten, und doch hing sein stolzes, eigenwilliges altes Herz insgeheim unendlich an seinem Jüngsten. In einem derartigen Anfall von Gereiztheit war's, dass er ihn auf eine Reise nach Amerika geschickt hatte; Cedric sollte ihm eine Zeit lang aus den Augen kommen, damit er nicht durch den immerwährenden Vergleich sich über das Treiben der beiden Ältesten, die ihm gerade damals wieder viel zu schaffen machten, noch mehr aufzuregen brauchte.

Aber kaum war der Sohn ein halbes Jahr fort, als der alte Herr Sehnsucht nach ihm empfand und ihm den Befehl zur Heimkehr sandte. Dieser Brief kreuzte sich mit einem des jungen Mannes, in dem dieser dem Vater von seiner Liebe zu der hübschen Amerikanerin und seiner Absicht, dieselbe zu heiraten, erzählte, was den Grafen in fürchterliche Wut versetzte. Wie entsetzlich seine Zornesausbrüche auch sein Leben lang gewesen waren, so schrankenlos hatte er noch nie getobt, wie nach dem Erhalt von Kapitän Cedrics Brief, und sein Kammerdiener, der eben im Zimmer war, machte sich auf einen Schlaganfall gefasst. Eine Stunde lang raste er wie ein wildes Tier, dann setzte er sich hin und schrieb an seinen Sohn. Er verbot ihm, je wieder den Fuß in die Nähe seiner alten Heimat zu setzen oder an Vater und Brüder ein Wort zu schreiben; er könne leben, wie es ihm behage, und sterben, wo es ihm gefällig sei, von seiner Familie sei er für alle Zeiten geschieden und Hilfe oder Unterstützung habe er von Seiten seines Vaters nie und nimmer zu rechnen.

Der Kapitän war tief betrübt über diesen Brief. Er hing an England und er liebte das schöne Heim, in dem er geboren war; er hatte sogar den übellaunischen, despotischen Vater lieb und hatte dessen Kümmernisse im Stillen immer mitempfunden, aber er war sich vollkommen klar, dass er von nun an nichts mehr von ihm zu erwarten hatte.

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