Sie wirft den glühenden Zigarettenanzünder gegen seine Jacke und fährt das Fenster wieder hoch. Dem Polizisten brennt die Sicherung durch. Er holt aus und schlägt mit voller Wucht gegen die Scheibe. Sein Handgelenk zersplittert wie Glas. Vor Schmerz lässt er schreiend den Schlagstock fallen. Lilli fährt das völlig intakte Fenster einen Spalt runter.
Rauchen tötet!
Sie drückt aufs Gas und lässt die Männer am Straßenrand stehen.
Hinterher!
Was ist mit deiner Hand?
Noch bevor er seinem Kollegen antworten kann, platzen alle vier Reifen ihres Dienstwagens gleichzeitig.
30.September
Schönen guten Abend.
Guten Abend, der Herr.
Der stämmige Herr, Mitte dreißig, setzt sich neben den fremden, gut gekleideten Mann. Der Bus ist ansonsten vollkommen leer, aber er muss sein Glück teilen. Er zieht ein Ultraschallfoto aus der Hemdtasche und zeigt es seinem eleganten Sitznachbarn mit dem schwarzen Hut.
Sehen Sie mal, mein erstes Kind.
Da gratuliere ich ihnen herzlich.
Er reicht dem werdenden Vater lächelnd die Hand.
Wissen Sie, wir hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben, aber der Herr hat uns erhört. Haben Sie auch Kinder?
Oh ja, ich habe zwei, einen Sohn und eine Tochter.
Herrlich, das wünsche ich mir auch, aber auch eines ist schon ein kleines Wunder. Ich hoffe es kommt nach meiner Frau, wenn es ein Mädchen wird.
Was den Charakter angeht, kommt meine Tochter direkt nach mir. Sie hat sich sehr viel Respekt erkämpft, ich war nicht immer fair zu ihr, aber ich wollte, dass sie etwas Außergewöhnliches aus ihrem Leben macht.
Sind Sie stolz auf sie?
Oh ja, sie kennt keine Gnade. Ich kann mich noch daran erinnern, als sie ihren ersten Zahn bekommen hat. Sie heißt Lillith, aber sie will nur Lilli genannt werden.
Ich finde Lillith ist ein sehr schöner Name.
Wussten Sie, dass es der erste war?
Wie meinen Sie das?
Mit dem Daumen drückt er seinen Hut einen halben Zentimeter die Stirn hoch und sieht durch das Fenster auf einen parkenden Krankenwagen und das rotierende Blaulicht. Gelassen drückt er auf den Halteknopf.
Am sechsten Tag schuf Gott Adam. Die Menschen interpretieren diesen Moment meistens sehr abwegig. Adam bedeutet »Der Erste«. Das bedeutet aber nicht der erste »Mann«, sondern der erste »Mensch«. Und bevor Gott den Menschen teilte, schickte er einen anderen Menschen. Gott gab Adam keinen Namen. Den ersten Namen, den er einer Seele gab, war Lillith. Und danach kam Eva. Wissen Sie, dieser Bus fuhr schon, bevor Sie eingestiegen sind und er wird weiterfahren wenn Sie aussteigen. So ähnlich ist es mit der menschlichen Wahrnehmung.
Ich fahre bis zur Endstation.
Da war ich schon. Ist nicht mein Ding. Hier ist meine Haltestelle, lässt der werdende Vater mich durch?
1.Oktober
In der Hölle gibt es einen Ozean. Kein Leben existiert in ihm. Keine Welle hat es je durchzogen. Es ist klar und süß. Seine Strände sind schwarz und kahl. Ohne Unterarme und Unterschenkel krabbelt ein Verdammter, dem man den Mund zugenäht hat, auf seinen Stümpfen, durch den dunklen, heißen Sand. Sein Körper schüttelt sich. Drei Schritte hinter ihm steht Lilli. In ihrer linken Hand liegt ein Haken, wie ihn Wilderer benutzen, die Robben schlachten.
Wenn du es bis zum Wasser schaffst bist du frei.
Zentimeter für Zentimeter quält sich der Verdammte voran.
Du hast es gleich geschafft.
Lilli legt den Haken in ihren Nacken.
Du bist durstig, nicht wahr?
Der Verdammte fällt in den Sand.
Es ist immer das gleiche mit euch. Es sind nur noch ein paar Schritte. Die Freiheit liegt direkt vor dir. Komm schon, du darfst in den Himmel.
Als hätte ein elektrischer Schlag den Körper durchfahren, erhebt sich der verstümmelte Körper und robbt weiter Richtung Wasser. Lilli hebt den Haken über ihren Kopf.
Das Wandern ist des Müllers Lust … komm sing mit!
Einen halben Meter bevor er die Freiheit erreicht, schlägt sie den Haken in seinen rechten Oberschenkel. Sein stummer Schrei fliegt über das regungslose Meer. Lilli dreht sich um und zieht ihn mühelos hinter sich her.
Der Herr hat euch so viele Tiere gegeben, köstlich und kleidsam, aber ihr müsst ja alles töten, was einen Puls hat. Nach der Geschichte mit dem Löwen haben wir auf dich gewartet, als der Elefant dazu kam wurden einige von uns kreativ, aber die Robbe war zu viel, da haben wir angefangen auf deinen Tod hinzuarbeiten.
Der Verdammte starrt verzweifelt auf den Ozean.
Eine Robbe. Welcher Hundesohn, erschießt denn eine Robbe? Was stand als nächstes auf der Liste, eine Galapagos Schildkröte? Meine Fresse! Ich sag es dir, wenn wir hier fertig sind, wird sich mein Bruder um dich kümmern und glaub mir, ich bin noch nett zu dir, Damian macht dich fertig! Er kann Menschen die Katzen töten nicht ausstehen, egal ob man sie in einen Sack steckt und ertränkt oder sie abknallt. Mein Bruder ist da empfindlich.
Sie lauscht kurz seinen Versuchen genug Luft durch die Nase zu bekommen, während sie ihn weiter und weiter vom Meer wegschleift. Hinter dem Verdammten landet ein Dutzend blutroter Raben und hüpft auf ihn zu. Sie picken auf ihn ein und ziehen ihm Haare samt Kopfhaut aus dem Schädel. Lilli kann sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen.
Eine Robbe! Was für ein Bastard!
1.Oktober
Es sind nur noch wenige Minuten bis der Laden für getrocknetes Unkraut und Astrologie seine Pforten schließt. Lilli tritt mit kalten Regentropfen auf ihren Schultern in das kleine Geschäft neben dem verlassenen Pornokino. Das Windspiel an der Tür ist verstimmt. An dem runden Tisch zwischen den staubigen Regalen stehen zwei Stühle und zwei abgenutzte Hocker. Auf dem einzigen gepolsterten Sitzplatz sitzt Madame Papillon. Sie gleicht jedoch nicht im Geringsten einem Schmetterling, der Stuhl unter ihr kann Geschichten davon erzählen.
Bitte setzen Sie sich. Ich bin Madame Papillon. Ich habe die Antworten auf all ihre Fragen.
Können Sie in die Zukunft sehen?
Ich sehe die Zukunft und die Geisterwelt. Ich kann direkt in Ihre Seele sehen.
Lilli setzt sich, legt ihren Arm auf die schwere Tischdecke und dreht die Handfläche nach oben.
Erzählen Sie mir etwas über meine Zukunft.
Die Wahrsagerin sieht die Linien auf Lillis blasser Hand. Madame Papillons Mimik dreht sich. Normalerweise hätte sie die helle Haut und die weichen Finger gedeutet. Als nächstes wäre Sie auf das Fehlen eines Eherings eingegangen, aber der Anblick des deutlich erkennbaren Pentagramms in der Handfläche ihrer Kundin, lässt die leicht unterbelichtete Hellseherin erschaudern. Die Luft im Raum bleibt stehen. Überfordert fängt sie an zu stottern.
I … I … Ich, ich sehe …
Ein unscharfes Bild flackert vor ihrem geistigen Auge auf. Die Wahrsagerin bekommt es mit der Angst zu tun, doch sie gibt sich große Mühe sich nichts anmerken zu lassen. Das Bild kommt wieder, doch dieses Mal ist es klar.
Ich sehe eine … ja, ich sehe eine Schaukel.
Madame Papillon kann nicht in die Zukunft sehen, das konnte sie nie. Sie hat den Leuten nur erzählt was sie hören wollten, aber heute sieht sie wirklich etwas und versucht es hektisch zu deuten.
Vielleicht treffen Sie den richtigen Mann und werden schwanger.
Die Hellseherin sieht erwartungsvoll in Lillis starre Augen. Plötzlich fluten Bilder von Bergen aus Totenschädeln durch ihren Verstand.
Oh, Gott!
Sie sieht den Galgen und erkennt die herabhängenden Ketten. Auf dem Querbalken steht eine weibliche Gestalt, gehüllt in einen langen schwarzen Mantel mit weiter Kapuze. In ihrer Hand hält sie eine große Sense mit Widerhaken.
Ich sehe die Hölle.
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