Eigentlich hätte ihn diese Ruhe von seiner Angst befreien müssen, doch es war so unheimlich ruhig, dass ihm die Stille nur noch mehr zusetzte. Langsam setzte sich sein Körper in Bewegung. Seine Muskeln begannen sich vor Aufregung zu verkrampfen.
‚Reiß dich zusammen!‘, befahl er sich, doch es half nichts. Es schien, als würde sein Körper bereits ahnen, was ihm als nächstes bevorstand, ohne dass er es wissen konnte.
Mit einem Schlag wurde es im Dom noch dunkler und somit unheimlicher als es bereits war. Seo blickte nervös hoch und erkannte, dass sich vor dem Mond eine dunkle Wolkenbank geschoben hatte und dessen Licht abschirmte.
Hinter ihm wurden wieder Geräusche hörbar und er drehte sich ruckartig um. Und wieder herrschte diese beängstigende Totenstille.
Plötzlich breitete sich ein seltsamer, ekelhafter Geruch in seiner Umgebung aus. Es roch modrig und nach etwas verfaultem. Ihm wurde von dem Gestank richtig unwohl. Es war, als ob ein Toter auferstanden wäre!
„Hallo!“, wollte er rufen, doch es war nur ein hohes Krächzen hörbar, da seine Stimme vor Schreck kläglich versagte. Plötzlich durchfuhr ihn die pure Angst. Auf dem Boden bemerkte er im Schein der Kerze eine Schale, die zuvor sicher noch nicht hiergelegen war!
‚Ich bin nicht allein!‘, schoss es ihm angsterfüllt durch den Kopf. Ein kalter Schauer breitete sich über seinem Körper aus, als er sich erneut umsah.
Jemand musste die Schale hierher gelegt haben. ‚Aber wer und wozu?‘, dachte er sich. Er beobachtete nun den Altar und die Sitzbänke, die sich nacheinander reihten. Plötzlich erkannte er einen Schatten der sich langsam bewegte. Das Blut stockte ihm in den Adern. ‚Wer ist hier und warum zeigt er sich nicht?‘, fragte er sich, während sein Herz vor Anspannung schneller schlug.
Wie ein Blitz durchzuckte der Schock seinen Körper und ließ ihn für einen Moment erstarren. Er konnte sich nicht bewegen, als er die Schritte hinter sich wahrnahm. Dadurch, dass sie immer lauter wurden, konnte er erkennen, dass jemand rasch auf ihn zukamen. Dabei bemerkte er angewidert, dass der Gestank immer intensiver wurde.
Kurz fehlte ihm der Mut um sich umzudrehen, doch seine Angst vor dem Ungewissen wurde größer, und deshalb bezwang er seine Furcht. Hastig wandte er sich um.
Mit großen Augen erkannte er einen dunklen Umriss der auf ihn zukam. Das Schlimmste daran war, dass er nicht erkennen konnte, um wen es sich dabei handelte. Da er wusste, dass er kein Wort aus seinen Lippen pressen konnte, versuchte er nicht einmal zu sprechen. Dafür streckte er die Kerze nach vor, um sein Gegenüber endlich erkennen zu können. Doch der Schein war zu schwach um den Schatten aus der Dunkelheit sichtbar werden zu lassen. Er konnte nur die Silhouette eines Menschen erkennen, die bedrohlich und schnell auf ihn zukam.
Ängstlich wich der Pfarrer zurück. Was wollte der Unbekannte von ihm? Wie sollte er sich verhalten?
Seo befürchtete, der Schatten würde ihn nun angreifen, mobilisierte deshalb seine Kräfte und bereitete sich auf einen Kampf vor. Auch wenn er das Gefühl hatte, als würde all seine Energie aus seinem Körper entweichen und sich seine Knie in weiches Wachs verwandeln.
Plötzlich verstummten die Schritte und der Angreifer blieb abrupt stehen. Nun standen sie sich mit einem großen Abstand gegenüber. Seo musterte die Umrisse, doch konnte nicht einmal erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Er erkannte nur einen menschlichen Körper.
In diesem Augenblick schob sich die Wolke von dem Mond weg, und als dessen Schein den Dom etwas erhellte, blieb Seo die Luft weg.
Er konnte nicht fassen wer vor ihm stand. Es war mehr als nur ein Schock. Damit hatte er nicht gerechnet!
Das Gefühl, als würde sich ein tonnenschweres Gewicht auf seine Brust legen und ihm somit die Luft abschnüren, wurde immer stärker. Sein Herz hämmerte noch schneller und sein Magen verkrampfte sich. Wie konnte es so etwas nur geben?
Nur wenige Schritte von ihm entfernt stand im Mondlicht der Mönch und starrte ihn an. Eine pechschwarze Kutte wallte über dessen Körper. Eine Kapuze war über den Kopf tief ins Gesicht gezogen und verbarg so das Antlitz des Mönches. Nur das Kinn konnte Seo erkennen. Der Pfarrer bildete sich ein, dass er die Verletzungen, die er von der Sage kannte, erkennen konnte.
Es wirkte, als wollte ihm der Mönch drohen, auch wenn er kein Wort von sich gab. Vor Furcht schritt Seo ein Stück zurück.
Hoch aufgerichtet und mit schnellen Schritten kam die Geistergestalt näher auf den Pfarrer zu. Den Geistlichen überkam die Panik. Seine Hände zitterten. Der Angstschweiß trat aus allen Poren. Seine Beine waren kurz davor einzuknicken. Die Stimme versagte. Nur mit den Lippen konnte er ein Gebet formen. Er umklammerte das Kreuz um seinen Hals so fest, dass es sich tief in seine Haut bohrte.
Nur noch vier Schritte war der Mönch von ihm entfernt. Seo setzte einen weiteren Schritt rückwärts, sein Blick blieb jedoch auf der schaurigen Gestalt.
Seine Augen wurden immer größer, als sie in das dunkle Nichts unter der Kapuze starrten. So sehr er sich auch bemühte, er konnte nichts darunter erkennen. Nur noch zwei Schritte war der Mönch entfernt. Er strahlte eine eiskalte Aura aus, gemischt mit etwas teuflisch Dämonenhaftem und der puren Bösartigkeit. Der Pfarrer fühlte sich, als würde der Teufel persönlich vor ihm stehen!
Die Luft blieb Seo weg, noch bevor die Hand des Bösen nach ihm ausgestreckt wurde und die höllischen Finger sich um seine Kehle legten. Der Geistliche zitterte am ganzen Körper und seine Augen quollen starr hervor, während er zurückwich.
Da geschah es! Seo hatte seine Beine nicht mehr unter Kontrolle und stolperte rückwärts, verlor dabei sein Gleichgewicht und stürzte. Wie in Zeitlupe kam es ihm vor, während sein Blick gegen die Decke des Doms schweifte. Aus dieser Perspektive wirkte der Mönch noch schauriger, da er nun den unteren Teil des fratzenhaften Gesichts unter der Kapuze erblicken konnte. Es war grauenhaft und furchteinflößend! Vor allem das hämische, selbstzufriedene Grinsen auf dessen Lippen versetzte den Pfarrer während des Falles in Angst und Schrecken. Den Rest des Antlitzes konnte er nicht erkennen. Er bekam den Eindruck, als besaß diese Gestalt kein Gesicht!
Seo versuchte den Sturz abzufangen und ließ dabei den Kerzenständer aus. Die Flamme erlosch und Dunkelheit umgab Seo, noch bevor er mit dem Kopf auf den Steinboden knallte. Finsternis umgab ihn, bevor er das Bewusstsein verlor. Was nun folgte bekam er nicht mit!
Die schaurige Gestalt stand vor Seo und beugte sich mit ausgestreckter Hand zu ihm …
Sem kniete vor dem Bachbett. Die Zunge klebte auf seinem Gaumen und er musste dringend seinen Durst stillen. Schnell tauchte er seine Hände in das glasklare Wasser. Gierig sog er die eiskalte Flüssigkeit in sich und schöpfte sich etwas ins Gesicht um die Müdigkeit aus seinem Körper zu vertreiben und die letzten Kräfte zu mobilisieren.
Er atmete mehrmals tief durch, während ein paar Tropfen von seinem Antlitz abperlten und auf die Wasseroberfläche fielen.
Dabei bemerkte der Junge sein Spiegelbild und seine Augen verharrten auf der Narbe, die sich auf seiner Wange befand. Dies war ein Andenken, das er sich bei seinem ersten Kampf gegen die Wikinger zugezogen hatte. Bei diesem Anblick erinnerte er sich zurück, an all die Kämpfe die er mit Min, dem Hauptmann der Mambarkohorte, bestritten hatte und an das Glück, das sich immer an ihrer Seite befand. Nun schien es sie verlassen zu haben. Er befürchtete, dass ihr letzter Kampf vor ihnen lag.
Sie befanden sich auf gegnerischem Gebiet und ihre Feinde, waren ihnen noch immer auf den Fersen.
Er dachte an die Schlacht um die strategisch wichtigste Burg, die sich im Reich der Runen befand. Mit der Waffe in der Hand kämpften sie Seite an Seite mit ihren Verbündeten in einem aussichtslosen Kampf gegen die Krieger aus dem Reich des Roten Platzes. Trotz ihres erfahrenen Hauptmannes, der sie schon in so zahlreichen und aussichtlosen Schlachten zum Sieg geführt hatte, schien es, als wäre ihr Ende nahe. Kurz bevor sie dem Tod in die Augen sahen, schlug unter ihnen ein Felsbrocken eines Wurfgeschosses in die Burg und sie waren in den Fluss gestürzt, der sich unter ihnen befand. Mit ihnen war der Herzog vom Reich der Runen aus dem Schlachtfeld gespült worden. Die Feinde haben dies bemerkt und deshalb die Jagt auf sie begonnen.
Читать дальше