Jack London - Nur Fleisch
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© Lunata Berlin 2019
Jack London
Nur Fleisch
aus dem Englischen von von Erwin Magnus
Erstmals erschienen 1929
Covergestaltung Luanda Berlin
Coverbild Mathew Z. auf Pixabay
Der vorliegender Band bildet eine Auswahl aus den amerikanischen Novellenbänden mit den Originaltiteln:
„When God laughs“, „The Strength of the Strong“, „Lost Face“.
Inhalt
Westwärts
Der Abtrünnige
Nur Fleisch
Der Chinago
Südlich vom Slot
Das Feuer im Schnee
Die »Francis Spaight«
Eine Nase für den König
Debs' Traum
Ein Taifun vor der japanischen Küste
Über den Autor
Westwärts
Was auch geschieht, halt westwärts! Halt westwärts – Segelanweisung für Kap Horn.
Sieben Wochen lang hatte die Mary Rogers zwischen dem 50. Grad südlicher Breite im Atlantischen Ozean und dem 50. Grad südlicher Breite im Stillen Ozean gelegen, was heißt, daß sie in diesen sieben Wochen gekämpft hatte, um Kap Horn zu runden. Sieben Wochen lang hatte sie, bis auf ein einziges Mal, ununterbrochen schlechtes Wetter gehabt, und dann, nach sechs Tagen besonders schlechten Wetters, das sie in Lee der furchtbaren Terra del Fuego-Küste abgeritten hatte, wäre sie beinahe in schwerer Dünung gestrandet, als plötzlich Totenstille eingetreten war. Sieben Wochen lang hatte sie mit den mächtigen Seen bei Kap Horn gekämpft und war von ihnen zerschlagen und umhergeworfen worden. Sie war ein Holzschiff, und durch den unaufhörlichen Druck waren die Planken leck gesprungen, so daß die Wache täglich zweimal an die Pumpen mußte.
Die Mary Rogers war überanstrengt, die Besatzung war überanstrengt, und der Kapitän, der große Dan Cullen, war ebenfalls überanstrengt. Vielleicht war er am meisten überanstrengt, denn auf ihm ruhte die Verantwortung für diese Riesenarbeit. In der Regel schlief er angekleidet, aber er schlief nur selten. Die ganze Nacht spukte er auf dem Deck herum, ein großes, kräftiges, robustes Gespenst, dunkel und sonnenverbrannt in den dreißig Jahren, die er auf dem Meere verbracht hatte, und behaart wie ein Orang-Utan. Ihm wiederum spukte andauernd ein Gedanke im Kopf herum und diktierte ihm seine Handlungen, und das war eine Segelanweisung für Kap Horn: »Was auch geschieht, halt westwärts! Halt westwärts!« Das war bei ihm völlig zur fixen Idee geworden. Er dachte an nichts anderes, außer daß er zeitweise Gott lästerte, weil er ihm so schlechtes Wetter geschickt hatte.
Westwärts halten! Er klammerte sich an das Horn, und ein dutzendmal lag er beigedreht, das eiserne Kap Ost zu Nord oder Nord-Nord-Ost, an zwanzig Meilen entfernt. Er kämpfte sich durch Orkan auf Orkan im Südseetreibeis auf dem 64. Grad südlicher Breite, und er gelobte den Mächten der Finsternis seine unsterbliche Seele, wenn sie ihm nur ein klein wenig Ostwind, einen kleinen Hauch senden wollten, so daß er das Horn runden könnte. Aber er kam immer wieder ostwärts. In seiner Verzweiflung hatte er versucht, durch die Le-Maire-Straße zu fahren. Als er halb hindurchgelangt war, schlug der Wind nach Nordwest um, das Barometer fiel auf 28,88, und er machte kehrt und segelte vor dem wütenden Orkan davon, daß er um ein Haar die Mary Rogers auf die schwarzzähnigen Klippen gefahren hätte. Zweimal war er zu den Diego Ramirez-Klippen gekommen, und das eine Mal hatte ihn zwischen zwei Schneeböen nur der Anblick vom Grabmal der Schiffe eine viertel Seemeile rechts voraus gerettet.
Wind! Kapitän Dan Cullen dachte an all die dreißig Jahre, die er die See befahren hatte, und konnte sich nicht entsinnen, daß es je so heftig geweht hatte. Die Mary Rogers lag zu dem Zeitpunkt, als er dem Wetter dieses Zeugnis ausstellte, beigedreht, und um allem die Krone aufzusetzen, lag sie, ehe eine halbe Stunde vergangen war, mit dem Lukenrahmen im Wasser. Ihr neues Großtoppsegel und ihr nagelneues Gaffelsegel waren wie Packpapier zerfetzt, und fünf Segel, die mit doppelten Reffs beschlagen und festgemacht waren, wurden vom Sturm losgerissen und von den Rahen geweht. Und ehe es Morgen wurde, hatte die Mary Rogers noch zweimal auf der Breitseite gelegen, und es waren Löcher in ihre Schanzverkleidung gehauen worden, um das Deck von der schweren Last zu befreien, die das Weltmeer über sie wälzte.
Durchschnittlich einmal die Woche sah Kapitän Dan Cullen einen Schimmer von der Sonne. Einmal schien die Sonne zehn Minuten lang gegen Mittag, zehn Minuten darauf wehte wieder ein neuer Sturm; beide Wachen mußten Segel bergen, und alles verschwand in einer heftigen Bö mit stiebendem Schnee. Einmal hatte Kapitän Dan Cullen ganze vierzehn Tage lang nicht eine einzige Meridian- oder Chronometerbeobachtung nehmen können. Er kannte selten genauer als um einen halben Grad seine Position, außer, wenn er Land in Sicht hatte, denn Sonne und Sterne hielten sich andauernd verborgen, und bestenfalls taugte der Horizont nicht viel zu genauen Beobachtungen. Eine graue Finsternis ruhte über dem Universum. Die Wolken waren grau; die großen, anstürmenden Seen waren bleigrau; die rauchenden Wellengipfel waren eine kochende, graue Masse; selbst die Albatrosse, die hin und wieder auftauchten, waren grau, und die Schneeflocken waren nicht weiß, sondern grau unter dem grauen Leichentuch des Himmels.
Das Leben an Bord der Mary Rogers war grau – grau und trübselig. Die Gesichter der Seeleute waren graublau; sie waren voller Schrammen und Beulen, und die Leute litten furchtbar. Es waren die reinen Schatten von Männern. Seit sieben Wochen wußten sie nicht, was es heißt, trocken zu sein, ob sie sich in der Back befanden oder an Deck. Sie hatten vergessen, was es heißt, eine ganze Wache durchzuschlafen, denn in jeder Wache hieß es: »Alle Mann an Deck«. Hin und wieder verschafften sie sich einige Augenblicke qualvollen Schlafes, und dann schliefen sie in ihrem Ölzeug, bereit, dem ewigen Ruf zu gehorchen. So schwach und mitgenommen waren sie, daß beide Wachen zu Hilfe genommen werden mußten, um die Arbeit einer Wache zu verrichten. Deshalb waren beide Wachen fast immer an Deck und keiner, und wenn er der Schatten eines Mannes gewesen wäre, hätte sich von der Arbeit drücken können. Es hätte mindestens ein gebrochenes Bein dazu gehört, um die Arbeit niederlegen zu dürfen, und doch gab es zwei Mann, die von den über das Schiff hereinbrechenden Seen derart mißhandelt und zerschlagen waren, daß sie die ersehnte Freiheit erlangt hatten.
Noch ein Mann war ein Schatten seiner selbst, und dieser Mann war George Dorety. Er war der einzige Passagier an Bord, ein Freund des Reeders, und er hatte sich um seiner Gesundheit willen zu der Reise entschlossen. Aber die sieben Wochen bei Kap Horn hatten seiner Gesundheit nicht geholfen. In den langen Nächten, wenn das Schiff in den Seen stampfte und stampfte, japste und stöhnte er; und wenn er sich an Deck zeigte, war er, um sich warm zu halten, so eingepackt, daß er einem wandernden Trödlerladen glich. Mittags, wenn er am Tisch in der Kajüte aß, wo es so finster war, daß die schwingenden Kajütenlampen beständig brannten, sah er grau und traurig aus wie der kränkste, melancholischste Mann in der Back. Es hatte auch keine ermunternde Wirkung auf ihn, daß er gegenüber am Tisch Kapitän Dan Cullen sah. Kapitän Dan Cullen kaute, blickte finster drein und verhielt sich im übrigen schweigend. Sein Finsterdreinblicken galt dem lieben Gott, und bei jedem Bissen, den er nahm, wiederholte er den einzigen Gedanken, für den sein Dasein Raum bot, nämlich: westwärts – immer westwärts. Er war ein großer, behaarter, brutaler Bursche, und sein Anblick wirkte nicht appetitanregend auf den anderen. In seinen Augen war George Dorety ein Jonas, und das erzählte er ihm einmal im Laufe jeder Mahlzeit, während er seine Wut vom lieben Gott auf den Passagier übertrug und umgekehrt.
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