Kurze Zeit später verließen sie den Pfad am Fluss. Zu ihrer Linken wurde der bisher lichte Wald zu einem undurchdringlichen Dickicht aus hohen Bäumen, die dicht mit Lianen und Moosen bewachsen waren. Zu ihrer Rechten lagen die Grasländer, die aussahen wie in Rodicas frühesten Erinnerungen, der Wanderung mit ihren Eltern, kurz bevor sie starben: Ebenen mit hohen Gräsern, über die der Wind fegte.
Nachdem sie den Rändern der Urwälder weitere drei Tage gefolgt waren, bogen sie eines Nachmittags in den Wald ab. Ein kaum sichtbarer Pfad schlängelte sich durch das Dickicht und öffnete sich unvermittelt auf eine weitläufige Lichtung, auf der rings um einen kleinen Weiher eine Vielzahl von runden Hütten errichtet worden war. Sie bestanden aus geflochtenen Schilfmatten. Die Eingänge waren mit Fellen verhangen und vor einigen Hütten hatte man Beete angelegt. Am anderen Ende der Lichtung gab es einen Zaun, hinter dem Pferde, Ziegen und Schafe weideten.
Rodica blieb stehen. Sie hatte lange nicht mehr so viele Menschen gesehen. Ein paar Alte, die die Köpfe vor einer der Hütten zusammensteckten. Spielende Kinder. Männer und Frauen, die von einem Feld zu kommen schienen, Hacken und Spaten geschultert.
»Das ist Rodica«, unterbrach Khatunas Stimme ihre Beobachtungen.
Die Bewohner der Siedlung versammelten sich um sie. Ein kleiner Junge versteckte sich hinter den Röcken seiner Mutter und starrte sie aus großen runden Augen an.
»Willkommen, Rodica.« Das war einer der Alten, die miteinander gesprochen hatten. Sein Haar und der Bart waren grau und das faltige Gesicht von der Sonne braun gebrannt. »Ich bin Aldo, der Dorfälteste.«
»Danke für das Willkommen, Aldo«, sagte Rodica scheu. Sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte, schien man sie doch aus jeder Richtung neugierig zu betrachten.
»Ich habe Rodica angeboten, dass sie bei uns um Aufnahme bitten kann«, fuhr Khatuna fort. »Sie wollte zu dem Weiler beim Haus der Ewigen, zu ihren Verwandten, aber da ist ja niemand mehr. Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte.«
Aldo musterte sie. »Wusstest du nicht, dass es den Weiler nicht mehr gibt?«, fragte er.
Rodica schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Komm.« Er wies auf eine der Hütten. »Lass uns reden. Khatuna, gibt es etwas, was wir noch heute besprechen müssen oder reicht morgen?«
»Morgen reicht vollkommen. Wir sind nicht in unmittelbarer Gefahr.« Khatuna grinste. »Ich würde sowieso gern erst einmal etwas essen. Und Olwenus will nach seinem Kleinen sehen.«
»Gut. Dann sprechen wir morgen. Komm, Rodica.«
Aldos Hütte war spärlich eingerichtet. In der Mitte des runden Raums lag eine Feuerstelle, neben der der Älteste Kessel, einen Bratrost und Geschirr gestapelt hatte. Eine grob gezimmerte Kiste enthielt Vorräte, Gemüse aus dem Beet vor der Tür, Brot und Kräuterbündel. Es gab einen niedrigen Tisch, einige Schemel und eine Schlafstätte. Auf dem Tisch lag ein Pergament, eine Karte ähnlich denen, die Maksim in seinem Raum aufbewahrte. An den Wänden aus Schilfgeflecht hingen Kleidung und unter dem Dach Räucherfleisch.
Aldo bat sie, sich an den Tisch zu setzen, und schob die Karte zur Seite. Während er einen Krug mit Dickmilch, Brot, Räucherfleisch, Teller, Becher und Messer vor sie stellte, erzählte er, dass die Siedler sich stets versteckte Lichtungen wie diese aussuchten, um ihre Hütten zu errichten. Wenn sie solche Waldwiesen auf ihren Erkundungen fanden, merkten sich die Fährtensucher sie und Aldo trug sie in seine Karten ein. So konnte man, wenn man gezwungen war, die Siedlung zu verlegen, sofort einen neuen Siedlungsort bestimmen. »In den letzten fünf Wintern mussten wir erst einmal vor Vampiren fliehen«, sagte er stolz. »Unsere Verstecke sind also gut.«
Dann setzte er sich und bat sie, zu essen. Er selbst schenkte sich nur Dickmilch ein und schien zufrieden, sie bei ihrer Mahlzeit zu beobachten.
»Also«, sagte er, als sie das Brot und das Fleisch verschlungen hatte, »wo kommst du her, Rodica?«
»Aus den Bergen.«
»Du warst eine Sklavin?«
Sie nickte. »Ja.«
Er sah sie lange an, bevor er fortfuhr. »Was ist mit dem Vater deines Kindes? Wieso ist er nicht bei dir? Hat er dich verlassen?« Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, was er von Männern hielt, die sich aus dem Staub machten, nachdem sie Frauen geschwängert hatten.
Sie wollte ihm die Lüge von dem Soldaten aus Insan erzählen, sie wollte es wirklich. Aber sein freundliches Gesicht und die Weisheit in seinen Zügen ließen sie innehalten. Sie spürte den Kloß in ihrem Hals und die Tränen, die wieder flossen, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte.
»Nein«, schluchzte sie. Maksim hätte sie nie verlassen! Er hätte ihr beigestanden! »Ich … ich ‒.« Sie konnte nicht weitersprechen.
»Du hast ihn verlassen«, sagte der Älteste leise.
Sie nickte tränenüberströmt. »Er weiß nichts von dem Kind.«
»Warum nicht?«
»Sie hätten es getötet.« Sie sagte es einfach so.
»Er ist also ein Vampir.«
Rodica senkte schluchzend den Kopf. Jetzt war es raus. Sie wollte mit den Lügen aufhören. Wenn sie sie verjagten, so sei es. Aber sie konnte Maksim nicht mehr verleugnen. »Ja. Wir haben uns geliebt. Wir lieben uns«, verbesserte sie sich und wischte die Tränen weg. »Als ich feststellte, dass ich guter Hoffnung war, habe ich es ihm nicht gesagt. Unser Kind würde nach den Gesetzen der Vampire getötet werden. Es … es würde ihn auch vieles kosten, falls das Kind dort geboren werden würde. Also bin ich geflohen.«
»Wohin wolltest du gehen?«
»Zum Haus der Ewigen. Aber als ich ankam, waren dort nur noch Ruinen. Ich habe mich dann auf den Weg zum nächsten Weiler gemacht. Und Khatuna und Olwenus getroffen.«
»Was hast du Khatuna und Olwenus über deinen Zustand gesagt?«
»Bis auf die Tatsache, dass der Vater meines Kindes ein Vampir ist, die Wahrheit. Ich habe gesagt, dass der Vater ein Soldat aus Insan war.«
»Eine Erklärung so gut wie jede andere.« Er räusperte sich. »Wenn du möchtest, Rodica, dann bleib bei uns. Helfende Hände sind immer willkommen. Du verstehst dich auf Feldarbeit?«
Überrascht hob sie den Kopf und konnte ihr Glück im ersten Augenblick nicht fassen. »Ja, natürlich! Ich danke dir! Aber … es macht dir nichts aus, dass mein Kind ein Ewiger ist?« Sie musste an das denken, was Olwenus bei den Ruinen gesagt hatte.
»Nein. Ewige sind für mich wie Menschen. Sicher, sie erben die Unsterblichkeit ihres vampirischen Elternteils und ihr Blut tötet Vampire, aber das sind auch schon die einzigen Merkmale, die sie von den Menschen unterscheiden. Es gibt allerdings Menschen hier, die Ewige verachten oder Angst vor ihnen haben, einfach weil sie von Vampiren abstammen. Sie könnten fordern, dass wir dich verjagen. Ich glaube, wir sollten daher dabeibleiben, dass der Vater des Kindes ein Soldat war. Der verstorben ist.«
Rodica sah ihn wortlos an. Dann erhob sie sich schwerfällig, ging zu ihm und legte ihm die Arme um den Hals. »Ich danke dir«, flüsterte sie und küsste ihn auf die Wange.
»Du machst einen alten Mann ganz verlegen!«, protestierte er und tätschelte ihr unbeholfen den Rücken. »Komm, es gibt da eine Hütte, die leersteht. Der alte Sabas ist letzten Mond gestorben. Du kannst die Hütte haben.«
Taran wurde am Nachmittag eines warmen spätsommerlichen Tages geboren. Lindita, Kräuterweib, Heilerin und Geburtshelferin in einer Person, sagte, dass es eine schöne und einfache Geburt gewesen war.
Rodica benannte ihr kleines Mädchen in Erinnerung an Emese. Die hatte sich immer eine Tochter namens Taran gewünscht, aber nach Vazha kein weiteres Kind mehr bekommen. So verwendete Rodica den Namen für ihr Kind.
Sie konnte sich an dem kleinen Bündel Mensch, das sie in einem Tragetuch überallhin mitnahm, nicht sattsehen. Taran erschien ihr perfekt. Die großen blauen Augen. Der Schopf dunklen Haars. Die winzigen Hände und Füße. All der Schmerz und die Mühen ihrer Flucht hatten sich gelohnt. Der Gedanke, jemand könne ihr dieses Kind wegnehmen und töten, jagte ihr Schauer des Entsetzens über den Rücken. Wäre sie auf D’Aryun geblieben, hätte sie das niemals zugelassen. Sie hätten sie ebenfalls töten müssen.
Читать дальше