Es war ausgesprochen schwierig, verdeckte Ermittler einzuschleusen. Eigentlich kamen dafür nur angeworbene Gang-Mitglieder in Frage, die aussteigen wollten. Aber so etwas war selten – und davon abgesehen hatten die Betroffenen dann zumeist nur noch eine sehr kurze Lebenserwartung, wenn ihr Doppelspiel aufflog. Das Risiko ging kaum jemand ein. Die einzelnen Untergruppen der Gangs bestanden ausschließlich aus Mitgliedern, die in denselben Straßenzügen groß geworden waren und sich oft seit frühester Kindheit kannten. Jemand, der von außen kam, hatte keine Chance, sich ihr Vertrauen zu erwerben. Das brutale Einstiegsritual bestand darin, sich mehrere Minuten lang von allen Gang-Mitgliedern verprügeln zu lassen, ohne sich zu wehren. Für Frauen gab es wahlweise auch die Möglichkeit, sich von mindestens drei Mitgliedern vergewaltigen zu lassen.
Aber das war nur der Einstieg. Richtig dazu gehörte man erst, wenn man sich seine erste Träne verdient hatte – das Zeichen dafür, dass man bereit gewesen war, für die Gang zu töten. Manchmal wurden dafür willkürliche Opfer ausgesucht – aber für den Täter gab es dann kein Zurück mehr. Der erste Mord kettete ihn auf ewig an die Gang. An seine Mitwisser und Komplizen. Wie eine in das Fleisch geritzte Kriegsbemalung trugen sie ihre Tätowierungen und jeder, der sie ansah und einigermaßen Bescheid wusste, wie die Dinge in Spanish Harlem liefen, konnte ihnen ansehen, was sie auf dem Kerbholz hatten. Das verbreitete Angst. Und genau darauf kam es Gangs wie Mara 13 an. Das tätowierte Gesicht eines Mara war nichts anderes als eine deutlich für jedermann sichtbare Drohung.
Die meisten Bewohner der betroffenen Viertel ließen sich einschüchtern und schwiegen. Es häuften sich bei uns im FBI Field Office New York die Fälle, in denen ein Verbrechen auf offener Straße geschah und es nicht einmal jemand wagte, die Kollegen der City Police zu verständigen.
Eine Schwäche hatten die Maras allerdings. Sie waren eitel und gingen häufig zum Friseur. Manche ließen sich den Schädel ganz kahl rasieren, um Platz für Tattoos zu haben, andere bevorzugten Schnitte, bei denen nur ein mehr oder weniger breiter, sehr exakt begrenzter Haarstreifen auf dem Kopf übrig blieb. Beim Friseur unterhielten sich die Marabuntas ziemlich ungehemmt - und einen alten Mann wie Norman Echeveria nahmen sie ohnehin nicht ernst. Sie gingen einfach davon aus, dass er genauso von seiner Furcht in Schach gehalten wurde, die die meisten anderen.
Und so war es wiederholt vorgekommen, dass Echeveria einiges mitbekommen hatte, was für die Ermittlungsarbeit von großem Nutzen gewesen war.
Ich sah auf die Uhr.
„Der kommt nicht mehr“, stellte ich fest.
Mein Kollege Jaden Hecker schob den Teller mit dem Chili ein Stück von sich weg und nahm einen tiefen Schluck Mineralwasser. Ich hatte wenig Mitleid mit ihm. Schließlich hatte ich ihn gewarnt. Das Chili bei „Tapas Mexicanas“ war wirklich extrem scharf.
„Meinst du, wir sollten mal bei seinem Laden vorbeischauen, ob alles in Ordnung ist?“, fragte er.
„Damit würden wir ihn kompromittieren.“
„Ich mache mir Sorgen um ihn. Wenn wir unauffällig bleiben, könnten wir doch mal bei ihm vorbeischauen.“
„Ich weiß nicht, ob das wirklich eine gute Idee ist.“
„Echeveria könnte in Schwierigkeiten sein.“
„Na gut.“
Wir standen auf und verließen das „Tapas Mexicanas“. Unser Dodge stand nur wenige Meter entfernt. Wir stiegen ein und fuhren noch einen Umweg, der sich aufgrund der Einbahnstraßen leider nicht vermeiden ließ, etwa eine Viertelstunde später an Norman Echeverias Friseurgeschäft vorbei – so langsam wie möglich, ohne dabei besonders aufzufallen.
Der Laden war geschlossen. Und zwar offenbar dauerhaft. Die Tür war mit Holzplatten vernagelt, die Fenster blickdicht verhängt und es hing ein Schild mit der Aufschrift „For Sale“ davor.
„Halt mal hier irgendwo an und lass mich raus!“, forderte Jaden. „Dann fahre einmal um den Block und hol mich wieder ab.“
„Aber...“
„Das stinkt doch zum Himmel!“
„Echeveria hat sich ja nicht ausdrücklich mit uns verabredet!“
„Aber dieser Mann führt ein Leben wie ein Uhrwerk! Und jetzt so etwas!“
„Vielleicht will er einfach seinen Lebensabend irgendwo anders genießen, als in Spanish Harlem. Da muss er uns ja nicht unbedingt vorher einweihen, oder?“
„Mir gefällt das trotzdem nicht!“
Ich ließ Jaden am Straßenrand aussteigen und fuhr dann weiter. Während ich eine Runde um den Block drehte, erreichte mich über Handy ein Anruf unseres Field Office, den ich über die Freisprechanlage entgegennahm.
Am Apparat war Mr John D. Kellerman, unser Chef.
„Barry, ich nehme an, Ihr Treffen mit Norman Echeveria ist bereits beendet.“
„Es hat nicht stattgefunden, weil er nicht aufgetaucht ist“, erwiderte ich. „Sein Laden steht überraschenderweise zum Verkauf. Unser Informant scheint in seiner Lebensplanung eine sehr plötzliche Veränderung vorgenommen zu haben.“
„Oh“, entfuhr es unserem Chef. Weitergehend dokumentierte er diese Neuigkeit nicht. Sie war ein einzelnes Puzzleteil in unseren Ermittlungen gegen die Mara Salvatrucha, wie die vollständige Bezeichnung der Mara 13 eigentlich lautete. Wie dieses Puzzleteil einzuordnen war, musste sich erst noch erweisen.
„Ich nehme aber an, dass Sie immer noch in Spanish Harlem sind“, sagte Mr Kellerman dann, nach kurzer Pause. Ich konnte durch die Freisprechanlage hören, wie Mr Kellerman in seinem Büro von jemandem angesprochen wurde und erkannte die Stimme von Helen, seiner Sekretärin.
„Wir sind immer noch in Spanish Harlem“, bestätigte ich.
„Ganz in Ihrer Nähe hat es einen Mordanschlag gegeben. Ein Mara 13-Mann wurde bei seinem Tätowierer erschossen. Die Kollegen der City Police sind bereits dort.“
„Schon unterwegs!“, versprach ich.
Dann bekam ich eine Nachricht auf meinem Zweithandy.
Eine Nachricht von Valentina.
>Ich hoffe, die Sache geht voran<, stand da.
Mein Kollege Jaden Hecker sah sich unterdessen bei dem Friseursalon von Norman Echeveria um. Seltsam war, dass auf dem „For Sale“-Schild kein Hinweis zu sehen war, an wen man sich denn wenden konnte, wenn man tatsächlich an dem Laden interessiert war. Nicht einmal eine Telefonnummer war angegeben.
Dann ging Jaden in die Türnische. Dafür, dass die Tür mit Holz vernagelt war, konnte es eigentlich nur eine vernünftige Erklärung geben: Die Tür ließ sich nicht mehr schließen. Vielleicht deswegen, weil es einen Einbruch gegeben hatte. Jedenfalls war es unmöglich, einen Blick ins Innere zu werfen. Weder durch die Ritzen zwischen den einzelnen Holzplatten noch durch die engen Schlitze zwischen den Vorhängen war das möglich.
Eine ältere Frau mit einer Einkaufstasche blieb stehen. Sie war klein und zierlich. Das Haar war – passend zu ihrem dunklen Teint – sicherlich einmal blauschwarz gewesen, doch jetzt war es grau durchwirkt. Sie war schätzungsweise zwischen Mitte sechzig und Mitte siebzig und starrte Jaden mit großen Augen an, als hätte sie einen Geist vor sich.
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