„Aber wo ist denn dieses Nichtige Reich überhaupt?!“, unterbrach Lerry die Gans ungeduldig.
„Das kann ich auch nicht genau sagen, genau, aber wahrscheinlich liegt das Nichtige Reich irgendwo, jawohl irgendwo, über den Wolken Schottlands, da irgendwo hoch oben, jawohl! Lucy in the Sky with Diamonds.“
„Wie kommst du denn auf diese Idee?“ Kat hielt sein Bord fester.
„Na ja, nachdem ich das Monster überflogen hatte, Free as a Bird, das Schreckliche, das Schrecklichste, in der Stadt, einer schrecklichen, da sah ich bald darauf ein paar Inseln, ja, ja die kenn ich, von denen hat meine freie Großmutter immer meiner gefangenen Mutter erzählt, Your Mother Should Know, als sie uns besuchen kam im Londoner Zoo, ich war noch ein Küken, und meine Mutter hat mir dann, als ich größer war, abends am Zooteich…!“
„Selim!“
„Ach so, entschuldigung, ich schweife ab, ja ab…! Ich bin dann halt immer weiter der Sonne nachgeflogen, Follow The Sun, wie bereits zitiert, und dann kam lange nur noch Wasser, ganz viel Wasser, jawohl! Wäre ich nicht auf einem Schiff zwischengelandet, ja gelandet, hätte ich den Überflug nie, nie, nie überlebt, nein, nein, wäre schon tot, wie traurig! No Reply. War aber auch schon schwierig genug, sehr, sehr schwierig, von den Matrosen nicht in einen Kochtopf gesteckt zu werden, Glass Onion, Kochtopf, wie schlimm, diese Meute, jawohl, Meute, ja, ja… Revolution!“
„Armer Selim, aber sag mir bitte, wie sah denn das Monster aus?“ Maracella liebte nämlich Monster aller Art.
„Gar nicht, es ist nämlich unsichtbar! You’ ve Got to Hide Your Love Away.“
Die drei Jugendlichen starrten die Gans an.
„Nein, du siehst es nicht, nein, nein, You Won’t See Me. Aber da es immer da ist, spürst du es, ja, ja, und das Schlimmste ist sein Rachen, wie schrecklich, wenn du ihm zu nahe kommst, zu nahe ja, dann denkst du nur noch daran, was du alles haben möchtest, Pleasy Pleasy Me, jawohl, und wie du es dir am besten holen könntest, ja ja. Ich bekam eine solche Lust, nach unten zu fliegen, ja wohl, um mir alles zu stehlen was nicht niet- und nagelfest ist, ja, ja, aber ich bin ja ein Tier, jawohl, Hey Bulldog, da hab ich das Monster irgendwann ausgelacht, jawohl, ausgelacht hab ich es! Real Love. Aber wehe dem, der dieser Gier nachgibt: den frisst das Monster, frisst ihn, jawohl, mit Haut und Haar! Piggies.“
Maracella, die nicht wusste, was sie von diesem Monster halten sollte, fragte neugierig, „Und im Nichtigen Reich, gibt es da auch Monster?“
„Ich hab keines gesehen, nein, nein, aber wer weiß, ja, wer weiß schon! Dig It!
„Was sind da noch für Wesen dort?“, wollte die kleine Hawaiianerin unbeirrt wissen.
„Keine Ahnung. Everybody Has Got Something to Hide Except Me and My Monkey.“
„Also, da ihr alle auch alle aus Lisas Feder seid, könnte sich auch Tarantuga im Nichtigen Reich befinden!“, überlegte Maracella laut.
„Tarantuga? Helter Skelter!“ Selim blinzelte misstrauisch.
„Tarantuga ist so alt wie ich. Seine Geschichte hatte das gleiche Schicksal wie meine. Lisa verbrannte sie, als sie noch ein Kind war!“
„Aber warum hat sie denn all diese Geschichten verbrannt?“, warf Lerry ein und vergaß Selims Erzählung für einen Moment.
Maracella zuckte die Schultern, dann dachte sie kurz nach. Schließlich meinte sie, „Naja, wahrscheinlich glaubte Lisa, Gott sei Katholik! Eigene Welten und Figuren zu erschaffen, ist doch so ungeheuer lustig und man leidet dabei so wenig! Sie fühlte sich wahrscheinlich irgendwie schuldig und nicht mehr fromm genug.“
„Wie auch immer, das hilft uns jetzt auch nicht weiter!“, meinte Kat missmutig. Diese ganze Diskussion uferte für sein Gefühl zusehends aus. Er sehnte sich zurück zu einem Ufer, wo man wenigstens Wellenreiten konnte. Außerdem war für ihn dieses Nichtige Reich samt Treibgut mehr als rätselhaft. Er hätte jetzt viel lieber handfeste Tatsachen als Spekulationen vor sich gehabt.
„Gab es eigentlich noch eine Erzählung, die Lisa damals verbrannt hatte?“ Lerry ließ nicht locker und sah Maracella an.
„Hm, ja, die Geschichte von Walla!“
„Walla, was war denn das, eine fliegende Untertasse?“, warf Kat lakonisch ein, worauf Maracella beleidigt schwieg. Auch wenn Lisa damals ihre Geschichten verbrannt hatte, durfte niemand etwas gegen sie sagen. Schon gar nicht die Figuren aus ihrem Buch!
Sie diskutierten noch lange über diesen mysteriösen Ort, doch Selim war ihnen keine große Hilfe mehr. Da er immer etwas abseits der anderen geflogen war, wusste er nichts Genaueres mehr über die Gruppe. Außerdem hatte der Graugänserich bereits einer wunderschönen Hawaiigans zu tief in die Augen geschaut.
„Nun Freunde, ich fürchte, ich kann euch auch nicht mehr verraten, so sorry, sorry. Ihr entschuldigt mich doch? All you need is Love!“
Schon flog er fort.
Kapitel 5 Swinging London
Lisa lugte auf die Wolken. Es war angenehm ruhig, die meisten Fluggäste dösten. Außer den Schritten der Stewardessen hörte sie nur das gleichmäßige Surren der Düsen. Lisa legte den Kopf auf Alwins Schulter und dachte an ihre Mutter, die sie nie wirklich gekannt, und die sie doch in ihrer Wahrheit erlebt hatte, dessen war sie sich sicher. Eine Wahrheit, die einem in leuchtenden Farben geschmückten Tempel glich.
Lisa war bei ihren Großeltern in Kanada aufgewachsen. Ihr Vater, ein verheirateter Engländer, hatte sich nie zu der herumreisenden Zigeunerin bekannt, die ihm eine Tochter geschenkt hatte. Deren Eltern hatten jedoch einen Zirkus. Als ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt verschwand, übernahmen Lisas Großeltern ihre Erziehung. Die zwei älteren, liebevollen Menschen hatten ihr eine wunderbare Kindheit geschenkt und sie gelehrt, die Geborgenheit in der Reise, die Heimat in der Fremde zu umarmen.
Sie war in ihrem Leben viel herumgekommen. Dabei hatte sie immer getan, was sie fühlte, tun zu müssen. Oft genug kam sie dadurch in Schwierigkeiten; tat Dinge, die viele Menschen aus der Bahn warfen. Sie riss dort Wände ein, wo sie andere mühsam errichtet hatten, und oft genug ging sie dabei Leuten auf die Nerven. Doch sie konnte nicht anders.
Ihre Ehe mit Alwin war einem Segeltörn auf hoher See vergleichbar, weit weg vom sicheren Hafen. Dann, letztes Jahr, kam Leonhard. Als Alwin ihr mittgeteilt hatte, er hätte sich in einen jüngeren Mann verliebt, schlitterte Lisa zuerst in eine Depression. Es war, als wäre sie in eine seelische Totenstarre verfallen. Doch dann geschah, was sie trotz ihrer unkonventionellen Einstellung nicht für möglich gehalten hätte: Sie verliebte sich in den Liebhaber ihres Mannes. Für Alwin stellte das kein Problem dar, für Leonhard auch nicht, und sie erlebte mit diesen beiden Männern nie geahnte Höhenflüge.
Es war ein paar Tage nachdem Leonhard sich verabschiedet hatte und Lisa eines Abends den Bestseller der Autorin Mary Rocking, „The Return of the Godess“, zu Ende gelesen hatte. Die folgende Nacht träumte sie diesen Traum. Es war ein Traum, in dem sie Farben schmecken und Gerüche tasten konnte. Als sie aufwachte, fühlte sie sich erleichtert. Den ganzen Tag über spürte sie, etwas war anders in ihrem Leben. Am Abend begann sie plötzlich zu schreiben; das erste Mal nach so langer Zeit, nachdem sie als Kind ihre Geschichten verbrannt hatte. Die Worte flossen nur so aus ihrer Feder. Nach drei Monaten gab es neunhundert handgeschriebene Seiten mehr auf diesem Planeten. Sie überarbeitete den Text über die Machenschaften einer Göttin namens „Tochronoth“ und ließ das Manuskript als Buch binden. Es existierte nur ein einziges Exemplar davon. Für sie war dieses kreative Erlebnis eine Offenbarung. Seitdem wusste sie, das Paradies war etwas aus dem sie niemals vertrieben worden war – einem magischen Dreieck ähnlich, das über einem Abgrund kreist.
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