»Aber was werden Sie denn thun, wenn ich Sie loslasse? Nach Ures zurückkehren und Anklage gegen mich erheben, wie Sie mir gedroht haben?«
»Nein, nein!« antwortete der Haziendero. »Ich bin hier heraufgeritten, um Melton zu erwischen und alles, was er mir abgenommen hat, von ihm zurückzufordern. Diese Absicht kann ich in Ures nicht erreichen. Wenn Sie die Güte haben wollen, uns wieder loszubinden, werden wir mit Ihnen nach Almaden alto reiten, um dort den Betrüger zu bestrafen.«
»Ja, wir reiten mit Ihnen,« stimmte der Juriskonsulto bei. »Wir werden den Halunken zur Rechenschaft ziehen und große Thaten thun, indem wir mit den Yumas kämpfen!«
»Dann möchte ich Sie doch lieber hängen lassen, denn ich bin überzeugt, daß wir viel leichter und eher zum Ziele gelangen, wenn Sie nicht bei uns sind. Sie würden ja doch nur wieder Dummheiten machen.«
»Nein, nein! Wir versprechen Ihnen, klug wie die Schlangen zu sein und nichts zu thun, ohne vorher Ihre Erlaubnis eingeholt zu haben.«
»Wenn Sie den festen Willen haben, diesem Versprechen nachzukommen, so will ich mich erbitten lassen, doch muß vorher erst noch zweierlei geschehen. Sie unterzeichnen einige Zeilen, welche ich mir für den Gebrauchsfall in mein Buch notiere, des Inhalts, daß Sie nicht die mindeste Ursache haben, Winnetou und mir Vorwürfe zu machen, sondern uns als Ihren Lebensrettern vielmehr zu Dank verpflichtet sind.«
»Die Unterschrift sollen Sie haben. Und was ist das zweite?«
»Daß Sie sich auch an Wiinnetou wenden. Bisher haben Sie nur mich gebeten, Sie freizugeben; er hat aber darüber ebensogut zu bestimmen wie ich.«
Sie folgten dem Winke; der Apatsche antwortete ihnen nicht, sondern sagte, sich in wegwerfendem Tone an mich richtend:
»Die Bleichgesichter sind wie die Flöhe, welche keinen Nutzen bringen und auch niemandem zu schaden vermögen und denjenigen, an dem sie hangen, nur belästigen. Wenn Old Shatterhand solch Ungeziefer mit sich schleppen will, so ist das seine Sache. Der Häuptling der Apatschen hat nichts dagegen.«
Darauf löste ich ihnen die Riemen. Daß sie doch wirklich Angst gehabt hatten, zeigte sich jetzt, als sie meine Hände ergriffen, um sich zu bedanken. Ich hatte nicht nötig, sie von mir abzuwehren, denn ihre Dankesbezeugungen wurden von anderer Seite unterbrochen, von einer Seite, an welche ich jetzt am allerwenigsten gedacht hätte. Nämlich genau an derselben Stelle, an welcher ich gestern mit Winnetou den Tümpel erreicht hatte, teilte sich jetzt das Gebüsch, und wen sahen wir? Den jungen Mimbrenjo, den ich fortgeschickt hatte, um die fünfzig Krieger, welche sich bei den Herden befanden, zu benachrichtigen. Da er so schnell zurückkehrte, mußte etwas, und zwar nichts Gutes geschehen sein. Er reichte seinem Bruder die Hand und meldete dann, sich an Winnetou und mich wendend:
»Meine beiden großen Brüder haben so deutliche Spuren hinterlassen, daß ich ihnen leicht zu folgen vermochte. Leider wurde es gestern dunkel, ehe ich diesen Ort zu erreichen vermochte, und ich mußte, um die Fährte nicht zu verlieren, den Morgen kurz vor dem Ziele erwarten.«
»Mein junger Bruder,« antwortete ich, »muß kurz, nachdem er uns verlassen hatte, wieder umgekehrt sein, um uns nachzureiten. Ich sandte ihn seinen Brüdern entgegen. Warum hat er den Auftrag nicht ausgeführt?«
»Er hat ihn ausgeführt. Wie könnte er es wagen, gegen die Befehle Old Shatterhands und Winnetous zu handeln! Ich bin auf meine Brüder getroffen und habe sie mitgebracht.«
»Unmöglich! Die Herden können, da sie so langsam gehen, nach meiner Berechnung frühestens morgen bei der Hazienda eintreffen.« »Unsere Krieger konnten eher kommen, weil sie die Herden verlassen mußten. Sie sind von den Yumas überfallen worden.«
»Was? Es scheint, die Gegend wimmelt geradezu von Yumaschwärmen. Wir hatten den "großen Mund" mit seinen Leuten; droben in Almaden alto stehen dreihundert, und nun giebt es einen dritten Trupp, welcher die Herden überfallen hat! Das ist doch sonderbar!«
»Old Shatterhand wird es noch weit sonderbarer finden, daß der "große Mund" sich bei dem Trupp befunden hat.«
»Der "große Mund"?« fragte ich beinahe erschrocken. »Der befindet sich doch in den Händen deines Vaters und soll nebst den andern gefangenen Yumas nach den Weideplätzen der Mimbrenjos transportiert werden!«
»So war es; aber es ist ihm jedenfalls gelungen, sich frei zu machen. Dann hat er mit vielen Yumakriegern die Herden überfallen.«
»Die Treiber haben sich natürlich gewehrt?«
»Nur kurze Zeit. Sie zählten nur fünfzig, und der "große Mund" hatte mehrere hundert Krieger bei sich. Einige Mimbrenjos wurden getötet und mehrere verwundet; sie sahen ein, daß Widerstand zu nichts führen könne, und ergriffen die Flucht nach der Hazienda, wo sie Old Shatterhand und Winnetou wußten. Darum sind sie viel eher dort angekommen, als mein großer, weißer Bruder gedacht hat.«
»Warum sind sie nach dieser Richtung geflohen und nicht nordwärts, wo sie deinen Vater wußten?«
»Weil der "große Mund" ihnen den Weg verlegte; weil sie annehmen mußten, daß es nun sehr fraglich sei, ob sie meinen Vater treffen würden, und weil sie nach der Hazienda nicht soweit hatten, wie zu ihm. Auch glaubten sie, von Old Shatterhand und Winnetou notwendig gebraucht zu werden. Ich traf schon am Walde der großen Lebenseiche auf sie und kehrte schnell um, sie meinen beiden berühmten Brüdern nachzubringen. Sie harren unten am Waldesrande, wo die Fährte, welcher wir gefolgt sind, unter die Bäume tritt. Ich vermutete den ersten Yumaposten hier und schlich voran, ihn zu erkundschaften.«
»So weiß man also nicht, auf welche Weise der "große Mund" frei geworden ist?«
»Nein.«
»Dann kann es mit deinem Vater und seinen Kriegern schlimm stehen. Wer weiß, in welcher Gefahr er sich befunden hat und noch befindet. Ihr seid doch wohl so klug gewesen, einige Leute abzusenden, um dies zu erkunden?«
»Ja. Zwei sind fort, um meinen Vater aufzusuchen, und zwei andere sind nach unsern Weideplätzen, um dafür zu sorgen, daß sich schnell zweihundert frische Krieger hinauf nach Almaden alto aufmachen. Hätten wir noch mehr thun sollen?«
»Nein. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen und bei der Eile, welche nötig ist, habt ihr genug gethan. Hol deine Krieger herbei! Sie kommen mir wie gerufen, obgleich der Grund der Schnelligkeit für uns jedenfalls ein betrübender ist.«
Keiner unserer Gefangenen hatte ein Wort des Gespräches gehört, da wir, wie sich ganz von selbst versteht, in vorsichtiger Entfernung von ihnen gestanden hatten. Jetzt blickte ich Winnetou an, und er sah mich an. Ich hatte in Gegenwart des Knaben keinen Vorwurf aussprechen wollen; jetzt aber, als dieser fort war, nahm das Gesicht Winnetous den allerstrengsten Ausdruck an, den ich jemals bei ihm beobachtet hatte, und
er sagte:
»Der "starke Büffel" ist wert, aus der Reihe der Häuptlinge gestoßen zu werden! Kann Old Shatterhand das, was er gehört hat, für möglich halten?«
»Eigentlich nicht, aber unser Freund hat es doch ermöglicht. Wie zornig machte ihn der Gedanke, daß ich den "großen Mund" entkommen lassen wolle! Und nun ist er ihm selbst entflohen!«
»Mein Bruder mag dazu nehmen, daß die Yumas alle gefesselt waren und keine Waffen hatten.«
»Und daß sie von über hundert Mimbrenjokriegern bewacht wurden! Und doch ist der vornehmste und für uns wichtigste von ihnen entkommen!«
»Vielleicht er nicht allein!«
»Ja, es ist sogar wahrscheinlich, daß alle seine Leute mit ihm befreit worden sind. Da er den Herden mit einer überlegenen Anzahl nachgefolgt ist, muß man vermuten, daß eine bedeutende Schar von Yumas auf die Mimbrenjos gestoßen ist, natürlich zufällig, und die Gefangenen befreit hat.«
»So mußte sich der "starke Büffel" bis auf den letzten Mann wehren!«
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