»Still! "Schwarzer Geier" erschrecke nicht und lasse keinen Laut hören!«
Der Rote war über die unerwartete Berührung wahrscheinlich erschreckt, denn es verging eine Weile, in welcher er sich sammelte; dann fragte er ebenso leise:
»Wer ist's?«
»Dunkle Wolke.«
Jetzt mußte es sich entscheiden, ob die Täuschung gelang oder nicht. Winnetou war gespannt darauf. Da flüsterte der »schwarze Geier«:
»Ich fühlte meines Bruders Hand. Ist sie denn frei?«
»Beide Hände sind frei. "Dunkle Wolke" war nicht fest gebunden und hat sich losgemacht.«
»So mag "dunkle Wolke" schnell auch mich befreien! Die Hunde schlafen. Wir fallen über sie her und schlagen sie tot!«
Winnetou nestelte an den Fesseln des Yuma herum und fragte:
»Ist's nicht besser, sie leben zu lassen? Der "schnelle Fisch" wird sich freuen, sie lebendig gefangen zu sehen.«
»Dunkle Wolke ist nicht klug. Männer wie Old Shatterhand und Winnetou muß man töten, wenn man sicher sein will. Wer sie leben läßt, befindet sich in Gefahr. Der "schnelle Fisch" konnte nicht gleich mit uns reiten; er wird am Vormittag mit fünf Kriegern kommen, um die weißen Gefangenen zu holen. Aber warum macht "dunkle Wolke" nicht schneller! Es ist doch nicht schwer, einen Knoten zu lösen!«
»Der Knoten ist gelöst, aber ein anderer als derjenige, den der "schwarze Geier" meint.«
Nach diesen Worten huschte Winnetou von ihm weg und kehrte zu uns zurück, um mir das Ergebnis unserer List mitzuteilen. Da unser Zweck erreicht war, blies der Mimbrenjo in die Asche, unter welcher noch einige Holzkohlen glimmten; ein kleines Flämmchen erschien, erhielt Nahrung, und bald brannte das Feuer so hell wie vorher.
Winnetou lag wieder neben mir; wir thaten so, als ob wir schliefen. Es machte uns Spaß, zu sehen, mit welchen Augen der »schwarze Geier« die »dunkle Wolke« betrachtete; er sah, daß sie gefesselt war. Das mußte ihn befremden; doch nahm sein besorgtes Gesicht sehr bald den Ausdruck der Beruhigung an; weil er anscheinend eine Erklärung des Rätsels gefunden hatte: der eingeschlafene Mimbrenjo war erwacht und hatte sich bewegt; das hatte die »dunkle Wolke« gehört und war schnell an ihren Platz zurückgekehrt und einstweilen wieder leicht in ihre Fesseln geschlüpft, um zunächst abzuwarten, ob der Wächter das Feuer wieder anblasen werde oder nicht.
Bald darauf schlief ich ein. Der Mimbrenjo hatte den ersten, Winnetou den zweiten und ich den dritten Teil der Nacht zu wachen. Als letzterer mich weckte, gab es doppeltes Licht; das Feuer brannte, und über uns stand der helle Mond. Mein erster Blick war auf den »schwarzen Geier« gerichtet. Er stellte sich schlafend, schlief aber nicht, da er noch immer auf die »dunkle Wolke« wartete. Ich setzte mich so, wie der Mimbrenjo gesessen hatte, den Rücken nach der »Wolke« gerichtet und dabei mit stillem Vergnügen die wütenden Blicke beobachtend, welche der Geier aus seinen von Zeit zu Zeit sich öffnenden Augen auf den Genossen schleuderte, dessen Verhalten er sich nun längst nicht mehr erklären konnte.
Die Nacht verging; es wurde Tag, und ich weckte Winnetou und den Yumatöter. Der »schwarze Geier« konnte seine Wut nicht mehr bemeistern. Sein Gesicht war verzerrt, und sein Auge schoß Blitze auf seinen Kameraden, der sich während der Nacht nicht gerührt hatte. Winnetou sah es auch, trat zu ihm und sagte mit dem ihm eigentümlichen halben Lächeln:
»"Schwarzer Geier" glaubt, ein großer Krieger zu sein, hat aber noch nicht gelernt, seine Gedanken zu verhüllen. Ich lese in seinem Gesichte, daß er auf "dunkle Wolke" zornig ist.«
»Der Häuptling der Apatschen erblickt Dinge, welche nicht vorhanden sind!«
»Was Winnetou erblickt, ist vorhanden. Warum hat "dunkle Wolke" den Wächter nicht erschlagen? Drei haben gewacht und "dunkler Wolke" dabei den Rücken zugekehrt. "Dunkle Wolke" konnte von hinten schlagen oder stechen, und dann die andern Yumas befreien.«
»Winnetou spricht, was ich nicht verstehe!«
»Der "schwarze Geier" versteht mich recht wohl. "Dunkle Wolke" war ja bei ihm, um ihm die Riemen aufzuknüpfen, ließ ihn aber im Stiche, um sich wieder schlafen zu legen. Ein guter Schlaf ist besser als die Freiheit!«
Da stieß der Geärgerte nun wütend hervor:
»"Dunkle Wolke" ist kein Krieger, kein Mann, sondern ein altes Weib, welches vor jedem Frosche und vor jeder Kröte flieht!«
Das hörte der Beschimpfte. Er richtete sich soweit auf, wie seine Fesseln ihm erlaubten, und rief zu dem andern hinüber:
»Was hat der "schwarze Geier" gesagt? Ich sei ein altes Weib? Er selbst ist als das feigste alte Weib im ganzen Stamm bekannt. Wäre er ein Mann, so hätte er sich gestern abend nicht ergreifen lassen!«
»Du bist ja auch gefangen!« entgegnete der andere. »Warum hast denn du dich fangen lassen? Und bei dir ist's nicht am Abende, sondern bei Tage gewesen! Welch eine Feigheit, sich von den Fesseln befreit und sie doch wieder angelegt zu haben, weil du dich fürchtetest!«
Und nun begann zwischen beiden ein heftiger Redekampf. Sie hätten einander ermordet, wenn sie nicht gefesselt gewesen wären. Winnetou machte dem Auftritt ein Ende, indem er dem »schwarzen Geier« Aufklärung gab.
»Du - du bist es gewesen?!« rief der Geier da betreten aus. »Das ist unmöglich! Ich habe die "Wolke" an der Stimme erkannt!«
»So bist du nicht nur blind, sondern auch halb taub gewesen, denn es war meine Stimme, welche du gehört hast. Du sagtest mir, was ich wissen wollte; dann schlich ich mich wieder fort.«
»Hört ihr es!« rief die "dunkle Wolke" aus. »Er hat den Häuptling der Apatschen für mich gehalten und ihm unsere Geheimnisse mitgeteilt. Schande über ihn! Er muß aus dem Stamme gestoßen werden!«
»Du wirst ebenso wie er nicht mehr zu dem Stamme der Yuma gehören, denn ihr werdet unsere Kugeln schmecken, ehe wir von hinnen reiten; dann wird die Sonne in eure offenen Schädel scheinen, um zu sehen, daß niemals ein Gehirn darin gewesen ist!«
Die Drohung erschreckte die Yumas so, daß sie schwiegen, brachte aber dafür einen andern, nämlich den Juriskonsulto, zum reden. Seine Untergebenen hatten ihm den Standpunkt klar gemacht; er wußte, daß wir die Yumas töten und dann fortreiten wollten, ohne ihn und seine Gefährten loszubinden; als er nun Winnetous letzte Worte hörte, glaubte er diese Zeit gekommen und wendete sich aus Angst in bittendem Tone an mich:
»Sennor Shatterhand, ist es wirklich wahr, daß die Roten erschossen werden?« »Ja,« antwortete ich. »Binnen einer Viertelstunde. Dann reiten wir fort.« »Aber Sie werden uns doch vorher freilassen!«
»Nein. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß uns das nicht einfallen kann.«
»Aber bedenken Sie, daß Sie dadurch zum Mörder an uns werden, mein wertester Sennor!«
»Wie haben denn Sie gehandelt? Uebrigens ersuche ich Sie, mich mit ihrem "wertesten Sennor" zu verschonen. Ich verzichte auf einen Titel, den Sie vorher schon einem Yuma gegeben haben. Es scheint, Sie können nur dann höflich sein, wenn die Angst Sie dazu treibt.«
»Nein, nein! Ich kann höflich sein und werde höflich sein. Sie sollen kein unrechtes Wort mehr von uns hören, wenn Sie uns loslassen. Ich sehe ein, daß wir undankbar waren und ohne Sie verloren gewesen wären, und der Haziendero ist auch zu dieser Einsicht gekommen; nicht wahr, Don Timoteo?«
»Ja, Sennor Shatterhand,« antwortete der Angeredete. »Ich habe während der letzten Nacht über alles nachgedacht und weiß nun, daß alles, was mir widerfahren ist, nicht geschehen wäre, wenn ich auf Ihre Warnungen gehört hätte.«
Er bat, und der Beamte bat. Die unter Fesseln und stehend am Baume verbrachte Nacht hatte sie mürbe gemacht. Das war es, was ich bezweckt hatte, und so fragte ich endlich in freundlicherem Tone als bisher:
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